Die Saligen Frauen von Reinegg
Rechts am Wege zwischen Klein-St. Veit und Brückl, wo heute das Bauerngehöft „Reinegger" steht, wohnten vor vielen Jahren in dem Gemäuer auch Salige Frauen (žalik žene), eigentlich die Seelen von Verstorbenen, welche wegen begangener Missetaten nach ihrem Tode in diese verlassene Burg gebannt worden waren. Mancher Vorübergehende hörte sie klagen und weinen oder traurige Lieder singen. Aber nur selten war es einem Menschen beschieden, einer der Jungfrauen ansichtig zu werden.
Vor etwa hundert Jahren schritt die damalige Besitzerin des Reinegger-Hofes spät abends bei Mondschein in den Stall, um, wie es ihr Brauch war, nachzusehen, ob die Tiere gehörig versorgt seien. Da erblickte sie hinter dem Stallgebäude plötzlich eine schöne weißgekleidete Frau. Hoheitsvoll war ihre Gestalt, aber ihr Antlitz druckte unbeschreibliche Trauer und stillen Kummer aus. Vor Furcht blieb die Reineggerin stehen und getraute sich weder sich zu regen noch um Hilfe zu rufen. „Fürchte dich nicht“, sprach freundlich die Erscheinung, „es geschieht dir kein Leid. Dir ist es beschieden, mich und meine Schwestern zu befreien, darum bitt’ ich dich tausendmal, geh' mit mir hinauf in die verfallene Burg und sei dort Taufpatin eines neugeborenen Kindes.“
„Ich kann nicht“, erwiderte die Reineggerin, „mir zittert vor Angst das Herz.“ Nun fing die schöne Frau an bitterlich zu weinen, fiel vor der Bäuerin auf die Knie und flehte: „Fürchte dich nicht, es kann dir nichts geschehen. Wenn du dich meiner und meiner Genossinnen erbarmst, so wirst du dich ungemein glücklich machen. Nur etwas könnte dich beim ersten Anblicke erschrecken: es wird dir nämlich eine riesige Schlange begegnen, aber harmlos an dir vorübergleiten. Sie tragt einen Schlüsselbund im Rachen. Kommt das Tier dir nahe, so fasse Mut und entreiße ihm die Schlüssel. Erst wenn du diese in Händen hast, gehen wir zur Taufe und du an dein glückbringendes Geschäft.“ Lange zögerte die Furchtsame mit der Antwort, da aber die Jungfrau nicht aufhörte zu flehen, sprach sie endlich: „Ich will vorerst meinen Mann fragen.“ „Kein Mensch darf etwas erfahren, sonst ist alles wieder verloren“, fiel die Weiße bittend ein. Wieder folgte langes Schweigen, das die Reineggerin endlich löste, indem sie sich zu dem Wagnisse bereit erklärte. Freudig erhob sich die Jungfrau und führte die zitternde Frau den Berg hinan, bis sie zu einer Waldwiese gelangten. Dort verließ sie ihre Retterin und gab ihr noch folgendes zu beherzigen: „Ich muß dich jetzt verlassen, aber leg alle Furcht ab, wenn sich die Schlange mit den Schlüsseln im Grase an dir vorbei windet, und nimm ihr den Bund ab. Laß aber ja kein Wörtlein laut werden!“ Damit verschwand die Salige.
Allein stand nun die Bäuerin im unheimlich finsteren Walde und blickte zwischen den Bäumen auf die mondbeschienene, ihr gut bekannte Waldwiese hinaus. In stiller Angst dahinschreitend, flüsterte sie: „Es sei in Gottes Namen!“ und trat ins Freie. Aber o weh! eine furchtbare Schlange, dicker als ein Baumstamm, wälzte sich vom jenseitigen Felsen herab. Schrecklich glänzte ihr schuppiger Leib im Mondscheine. Langsam näherte sich das Ungeheuer, und schon hörte die Reineggerin das Schellen der Schlüssel. Wie versteinert blieb sie stehen und sah nun auch die großen grünen Ohren der Schlange, die im nächsten Augenblicke so nahe war, daß die Bäuerin hätte nach dem Schlüsselbunde langen können. Aber sie rührte sich nicht vom Platze, sondern schrie, von furchtbarer Angst erfaßt: „Alle guten Geister loben Gott den Herrn.“ Indessen war das Tier vorbeigeglitten, und sie hörte hinter sich ein lautes Krachen und blickte zurück. Da sah sie, wie sich die Schlange an einem Baum emporwand und ihn mit fürchterlichen Schlägen ihres Schwanzes zu entwurzeln versuchte. Dann herrschte wieder tiefste Stille, der Mondschein erhellte den finsteren Wald und malte gespenstige Schatten an dem zerklüfteten Felsen, worauf die verfallene Burg stand. Aus dieser ertönte nun ein lautes Wehklagen und Weinen der trauernden Jungfrauen. Atemlos und schreckensbleich erreichte die Reineggerin ihr Heim. Seit jener Nacht sieht und hört man nichts mehr von den Saligen Frauen.
Die Sage erzählt weiter, daß die gebannten Saligen erlöst werden können, wenn eine Krähe hundert Stunden weit eine Nuß im Schnabel trägt und dann fallen läßt. Eine Frucht von dem daraus entsprossenen Bäume muß wieder von einer Krähe hundert Stunden weit getragen werden. Erst wenn aus dieser Frucht ein Baum erwächst, wird aus dessen Holze eine Wiege bereitet werden; das erste Kind, das man darein bettet, wird imstande sein, die Saligen zu erlösen, aber kein Sterblicher sonst.
Quelle: Georg Graber, Sagen aus Kärnten, Graz 1941.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Harald Hartmann, Februar 2006.
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