Der gedrehte Stein

1. Wer vom Speikkogel bis zur Grillitschhütte (Schafhütte) wandert, erblickt rechts vom Fußsteig einen etwa halbmannshohen grauen Stein, mit Alpenrosen und Latschen bewachsen.

War einst ein Bauernknecht, der hatte ein blondes Liebchen, aber zum Heiraten hatte es noch gute Weile, denn beide waren arm. Da mähte nun einst Mirtl, so hieß der Knecht, mit einigen anderen das dürftige Almgras auf der Wiese, die etwa hundert Schritte vom gedrehten Stein entfernt ist. Es war Vesperzeit; der Mirtl dachte an die Sepha und ging wohl ganz in Gedanken von seinen Kameraden weg. Gott weiß, wie weit er noch gegangen wäre, wenn er nicht auf einmal mit der Stirne in den „gedrahten Stein“ gerannt wäre, so ungestüm, daß ihm selbst sein echt lavanttalischer Dickschädel davon brummte. Wie er aufschaute, da war im Stein ein kleines Türlein aufgesprungen, und ohne viel zu denken, wie es seine Art war, ging er hinein. Ein paar Beulen bekam er noch in dem felsigen Gang, dann kam er in einen großen Saal - da blinkte es von eitel Gold und Silber. Eine schöne Frau kam ihm entgegen und wies ihm einen silbernen Sessel an. Er setzte sich verwundert nieder und sah mit offenem Mund und Augen auf die Herrlichkeit. Im Handumdrehen schlief er dann ein.

Nach einer Weile erwachte er und dachte sich: „Herrschaft! Da verschlaf’ ich in dem G’schloß und die Mannder schlagen die Mahd ohne mich zusammen.“ Da polterte er hinaus und trug dabei noch einige Beulen davon. Die scharfe Alpenluft frischte ihn bald auf. „Han i deachta wohl tramt“, und er schaute sich um; der Stein war grau und glatt wie zuvor. „Oba Stoana hat mir dås dålkate Wei’sbild in Såck g*steckt.“ Doch es waren lauter Goldklumpen. In Gedanken an die Freude der Sepha ging er gegen die Almwiese. Aber kein Mäher war sichtbar. Eilig stieg er bergab zum Bauernhof. Der Großknecht wusch sich gerade in dem Hausbrunnen. „Jessas, du bist’s, Mirtl! Ja, wo wårst denn in die sieben Jåhr? Eppa går bei die Ung’rischen drent?“ Nun kann man sich denken, daß dem guten Mirtl, der ohnedies kein Kirchenlicht war, der Verstand schier stehen blieb. Sieben Jahre hatte er geschlafen! Aber die Sepha nahm ihn trotzdem.

 

2. In Ungarn lebte vor vielen, vielen Jahren ein Hauptmann; der fragte einmal seine Leute, ob niemand den „gedrahten Stan“ auf der Koralpe kenne. Da meldete sich sein Bursche und sagte, daß er ihn genau kenne, da er im Lavanttal zu Hause sei und auf der Wiese, wo der Stein stehe, oft gemäht habe. „Gut“, sagte der Hauptmann, gab ihm das Reisegeld für ihn und sein Pferd und befahl ihm, sich sogleich auf die Reise zu begeben. „Wenn du zum Felsen kommst, wirst du daneben eine ‚Kranabetstaud’n’ und darin einen Schlüssel finden. Mit diesem geh in den Felsen durch die Türe hinein, dort liegen mehrere Laib ‚Schmer’ da nimmst du einen, und hast du ihn, so gehst du eiligst davon, sperrst die Türe zu und legst den Schlüssel dorthin, wo du ihn gefunden hast.“ Als der Bursche auf die Reise ging, war er neugierig, ob er alles so treffen würde, wie’s ihm der Herr gesagt, da er sonst nie dergleichen gesehen.

Wie er die Alm hinanging, nahm er für sich und sein Pferd auf drei Tage Verpflegung mit, und als er zum „gedrahten Stan“ hinkam, fand er alles, wie es der Hauptmann gesagt. Er nahm den großen eisernen Schlüssel ans der „Staud’n“ und erblickte das Tor, das in den Felsen führte, öffnete es und trat ein. Da sah er viele Schätze und mehrere Schmerlaibe. Er nahm Goldstücke und den Schmerlaib und begriff nicht, warum der Hauptmann so einfältig sei, nur einen Schmerlaib statt der wertvolleren Dinge zu verlangen. Dann schnitt er auch für sich ein Stückchen von einem Laibe, ging wieder hinaus, schloß die Türe, legte den Schlüssel auf den früheren Platz, wie es sein Herr befohlen, bestieg seinen Gaul und ritt davon.

Der Hauptmann wunderte sich über seine schnelle Rückkehr und nahm den Schmerlaib entgegen mit der Frage, ob er für sich nichts genommen habe, was der Bursche verneinte. Da schnitt jener ein kleines Stück vom Laibe ab und gab es ihm. Es war Helles Gold. Da nahm sich der Bursche vor, nach seiner Heimkunft sofort den gedrehten Stein aufzusuchen. Nicht lange darauf wurde er beurlaubt und ging heim. Schon auf dem Hinwege ging er zum „gedrehten Stein“, suchte Staud’n und Schlüssel, aber umsonst, alles war verschwunden, und er kam mit leeren Taschen heim.

Quelle: Georg Graber, Sagen aus Kärnten, Graz 1941.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Harald Hartmann, Februar 2006.
© digitaler Reprint: www.SAGEN.at