Die Geister der Weißen Wand
Bei einem Bauer im Maltatale saß das Gesinde eines Abends im traulichen Gespräch beisammen. Man erzählte dies und das, da kam das Gespräch auch auf die Wand, wo es der Sage nach „betrügen“ sollte. Die meisten fühlten ein heimliches Gruseln, nur ein Knecht rief keck: „Ich traue mich hinauf!“ Wenn man nach des Bauers Almhütte ging, kam man an der Wand vorbei. Der Bauer, der wohl selbst neugierig sein mochte, wie es sich mit dem Geisterspuk verhalte, schlug ihm daher vor, um Mitternacht hinaufzugehen und zum Wahrzeichen, daß er oben gewesen, das Brett des Rührkübels, der in der Almhütte stand, mitzubringen. Damit war der dreiste Knecht wohl einverstanden, nur daß er sich den Hund des Bauers als Begleiter erbat.
Und bald erhob sich der Knecht und trat die Nachtwanderung an. Als er in die Nähe der berüchtigten Wand kam, rief eine Stimme: „Greif an, greif an!“ - „Er hat einen vieräugigen Hund mit, ich trau' mich nicht“, gab eine andere Stimme zurück. Noch einmal hörte er das Zwiegespräch, aber er kam ungefährdet vorüber.
Bei der Almhütte angelangt, band er den Hund an einem Balken fest und holte das Brettchen. Da er wieder herauskam, hingen zwei Hunde dort, beide so ähnlich wie ein Kreuzer dem andern. Das konnte sich der Mann nicht erklären. „Meinen Hund kenn’ ich ja wohl“, dachte er bei sich und band den los, welcher ihn freundlich anwedelte. Doch leider war dies der unrichtige, er hatte nicht die braunen Flecken über den Augen, war also nicht „vieräugig“, was dem Knechte entging. Als dieser nun wieder bei der Wand anlangte, vernahm er nur noch die Worte: „Greif an!“ Die Antwort: „Jetzt trau' ich mich!“ hörte er nicht mehr, denn mit grauslichem Getöse fiel etwas über ihn her, der Hund verwandelte sich in eine Schreckgestalt, und vorwärts ging’s mit dem Manne, daß die Fetzen seines Gewandes an den Bäumen hangen blieben. Um ihn war’s jetzt geschehen.
Der Bauer ahnte das Unheil, ging tags darauf nachsehen und fand seine schlimme Ahnung bestätigt: an der Wand lag das Brett neben einigen Rockfetzen, und an der Hüttentür zerrte der Hofhund an seinem Strange.
Quelle: Georg Graber, Sagen aus Kärnten, Graz 1941.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Harald Hartmann, Februar 2006.
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