Das verschwundene Georgiwasser
In früherer Zeit gab es in Zammelsberg, einer ausgedehnten Kirchengemeinde, einen großen Platz hinter dem Schulhause, wo jeden Sonntag gerungen wurde. Diese Ringtratte, wie man den Rasen nannte, übte auf die Bauernburschen der Umgebung eine starke Anziehungskraft aus. Besonders oft kamen die Steinbichler, um sich mit den gefürchteten Zammelsbergern zu messen.
Es war an einem hohen Feiertage, als wieder eine Schar stämmiger Burschen herangezogen kam. Bald begann das Ringen. Aber es blieb nicht beim Wettkampfe, sondern unverhofft entspann sich ein ernster Streit, und dieser artete wie gewöhnlich in eine arge Rauferei aus. Die Zuschauer warteten noch zu, weil sie glaubten, die Streitenden würden sich bald wieder beruhigen; aber darin hatten sie sich arg getäuscht. Der Kampf wurde noch nie mit solcher Erbitterung geführt wie an diesem Tage. Selbst das weibliche Geschlecht nahm teil daran. Die Dirnen fuhren sich gegenseitig in die Haare oder trugen ihren Geliebten Prügel und Steine zu. Im Getümmel der Schlacht hatten die hitzigen Streiter nicht bemerkt, daß sie bereits in den Friedhof gelangt waren. Sie rissen jetzt Kreuze aus den Gräbern und schlugen damit zu. Da riefen plötzlich die Glocken zum Kirchgange, und das Geläute riß die Wütenden aus ihrem Taumel. Blut rann von Gesichtern und Händen. Um sich für den Gottesdienst davon zu reinigen, eilten sie zum Georgiwasser. Dieses strömte im hintersten Teile der Kirche aus dem Boden hervor und wurde in einem Becken aus weißem Steine aufgefangen. Das Wasser galt für heilkräftig. Als nun der erste seine blutigen Hände in den Quell tauchen wollte, wich das Wasser vor seiner Berührung zurück und verschwand gänzlich. Entsetzen und Staunen erfaßte die Umstehenden, und sie erkannten, wie frevelhaft sie gehandelt. Von der ganzen Bewohnerschaft wurde eine Versöhnungsfeier abgehalten, und das Ringen, die Ursache so vieler Raufereien, nahm allmählich ab. Das heilige Wasser aber war und blieb verschwunden. Das Volk erzählt, daß es in einem nahen Walde wieder hervorgebrochen sei. So brachte sich Zammelsberg selbst um die heilsame Quelle, aber es ist jetzt ein stiller, friedlicher Ort.
Quelle: Georg Graber, Sagen aus Kärnten, Graz 1941.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Harald Hartmann, Februar 2006.
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