Der Becher vom Geyersberg

Ein verwunschener Kastellan des Schlosses Geyersberg in Friesach war verurteilt, alle hundert Jahre wieder auf Erden zu wandeln, bis er einen gottesfürchtigen Jüngling finde, der seine Schätze heben und ihn dadurch erlösen sollte. Dieser seltsame Gast erschien eines Abends in der Schenke „Zum Krebsen" (jetzt das Castellanische Haus) und lenkte dort die Aufmerksamkeit der Leute auf sich, so daß ihm einige nachschlichen und den Fremdling beim Beinhause unter der Friedhofskapelle von St. Bartholomä mit rasselndem Getöse verschwinden sahen.

Am Ostersonntag 1615 endlich begegnete der Kastellan, in einen braunen Mantel gehüllt, im Morgengrauen zwei Jünglingen mit Namen Jobst und Erwin. Auf sein Zureden folgten sie ihm nach dem Schlosse Geyersberg, wo sie das Tor unbewacht und offen fanden. Durch Gewölbe und Pforten, Gänge und eine Reihe geisterhaft erleuchteter Gemächer gelangten sie in einen Raum, wo strahlende Goldbecher schimmerten und auf samtenem Lehnstuhl ein Greis schlummerte. „Herr! Meine Sendung ist vollbracht“, rief der Mann im braunen Mantel, und der Greis erwachte und winkte den beiden, näher zu treten. Diese traten an den Tisch heran und ergriffen, von einer geheimen Gewalt getrieben, jeder einen großen Becher. Während die Lichter rings erloschen und die Jünglinge die Flucht ergriffen, krachten hinter ihnen die Gewölbe, fürchterliche Schlünde öffneten sich hemmend vor ihnen und ein Tosen wie von Bergstürzen und Wildbächen scholl um sie her. Von ihrem unbekannten Führer getragen, entgingen sie den Schrecknissen und erwachten am hellen Tage außerhalb des Schlosses. Die Becher aber, welche sie krampfhaft in der Hand hielten, waren gefüllt mit blinkendem Gold. Erwin wurde ein wohlhabender Schmiedemeister und Jobst baute sich am Fuße des Geyersberges eine stattliche Mühle.

Quelle: Georg Graber, Sagen aus Kärnten, Graz 1941.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Harald Hartmann, Februar 2006.
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