Das Goldbrünnl am Reißkofel
Viele Jahre hindurch kam ins Gailtal ein Wälscher von höchst sonderbarem Aussehen. Sein Gewand war das eines Bettlers, aber er bettelte nicht, vielmehr trug er ein schroffes, verschlossenes Benehmen zur Schau und blieb auf alle Fragen über das Woher und Wohin seiner Reise stumm. Mißtrauisch betrachteten ihn die Leute, niemand wußte sich das rätselhafte Kommen und Gehen des seltsamen Gastes zu erklären.
Einst spürte ein neugieriger Bauer dem sonderbaren Fremdling nach und folgte ihm heimlich auf seiner Wanderung bis auf den Reißkofel, wo er ihn vor einem hohen Felsen haltmachen sah und ein Zaubersprüchlein murmeln hörte, worauf sich eine geheime, sonst nicht sichtbare Felsenpforte vor ihm auftat, die in eine Berghöhle führte. Darin verschwand der geheimnisvolle Fremde. Reich beladen mit glänzendem Goldsande kehrte er nach geraumer Weile aus der Felsenkammer zurück, deren Eingang sich hinter ihm wieder schloß. Als der Wälsche fort war, stellte sich der Bauer vor den Felsen und sagte das Zaubersprüchlein her, welches er jenem abgelauscht hatte. Auch ihm öffnete sich darauf der Eingang in die Höhle mit dem „Goldbrünnl". In unersättlicher Goldgier belud sich der Bauer so schwer mit dem edlen Metalle, daß er seine Last kaum aus der Höhle zu schleppen vermochte. Da stand plötzlich wie aus dem Boden gewachsen der rätselhafte Fremde, der ihn durch einen geheimnisvollen Bergspiegel beobachtet hatte, vor ihm, finster und drohend, und befahl ihm, in den Zauberspiegel zu schauen.
Der Bauer tat, wie ihm geheißen, und erschrak nicht wenig, in äußerst niedlichem Bilde darin sein heimatliches Anwesen zu erblicken. Sein Knecht fuhr gerade mit dem Erntewagen durchs Stadeltor und die Bäuerin molk die Kühe. Da holte der Wälsche unter seinem Mantel etwas hervor; hellauf blitzte es vor den Augen des Bauers, und als er wieder in den Spiegel schaute, lag die Kuh niedergeschossen vor der betroffenen Bäuerin. Das Bäuerlein, dem es in der Nähe des unheimlichen Gesellen ganz gruselig zu werden begann, versuchte Reißaus zu nehmen. Aber mit eisernem Arme hielt ihn der Mann zurück und drohte, auf das Spiegelbild weisend, so werde es dem Bauer ergehen, wenn er sich noch einmal aus Goldgier zu dem verhängnisvollen Felsen begebe. Dann war er verschwunden, der Bauer aber eilte in toller Flucht heimwärts. Das Spiegelbild hatte nicht gelogen, seine schönste Kuh lag tot im Stalle.
Quelle: Georg Graber, Sagen aus Kärnten, Graz 1941.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Harald Hartmann, Februar 2006.
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