In der Heiligen Nacht
Im Mölltale lebte ein Bauer, der sich überzeugen wollte, ob es wahr sei, was das Volk von der Heiligen Nacht zu erzählen weiß. In der Christnacht bekommen nämlich die Rinder menschliche Sprache und bereden miteinander, was das nächste Jahr den Menschen bringen wird. Will man sie hören, so muß man sich auf Farnkraut legen, welches auf dem Lande als Streu verwendet wird, und ohne daß man es weiß, Farnsamen bei sich haben. Alte Knechte sollen sich daher in früheren Zeiten öfter während dieser Nacht in die Futtertröge der Stalltiere gelegt haben, um ihr Gespräch zu belauschen. In einigen Gegenden Kärntens herrscht wieder die Meinung, daß Stierkälber, die als Zwillinge geworfen wurden, im siebenten Jahr während der Christnacht miteinander sprechen. Mancher Kühne hat schon einem solchen Gespräche gelauscht, aber noch jedesmal - so berichten die Sagen - ist der Eindringling gestraft worden und konnte keinem andern mitteilen, was er geholt; denn am Morgen wurde er als Leiche gefunden.
Der genannte Bauer traf also die nötigen Vorbereitungen und begab sich am Christabend in den Stall, um zu beobachten, ob seine Ochsen wirklich zu sprechen beginnen würden, und zu erfahren, was ihm das neue Jahr bringen werde. Die Ochsen, die bei seinem Eintreten ruhig am Stande gelegen hatten, erhoben sich sogleich; gegen Mitternacht hörte er, wie der eine zum andern sprach: „Übers Jahr wird mich der ,Schinder’ vom Hause führen. Du wirst im Hause bleiben, gemästet und geschlachtet werden und am nächsten Christtage wird die Bäuerin dein Fleisch auf den Tisch stellen. An deinem Tode wird der Knecht schuld sein, der uns füttert.“ Da stand der Bauer auf und stellte sich zur Tür, als der Ochse fortfuhr: „Den Holzstock, der dort bei der Türe steht, werden wir heuer noch auf den Friedhof ziehen; darauf wird die Bäuerin den Knecht heiraten.“
Als der Lauscher inne ward, daß er damit gemeint sei, fiel er vor Schreck zu Boden, und am nächsten Morgen fand man ihn tot im Stalle. Auch alles andere, was die Ochsen vorhergesagt, traf pünktlich ein. Der erste Ochs verendete im Lauf des Jahres an einer Seuche, der Schinder schaffte das Aas fort. Der andere wurde zur nächsten Christnacht geschlachtet, sein Fleisch kam als Festbraten auf den Tisch; der Knecht aber heiratete die verwitwete Bäuerin.Quelle: Georg Graber, Sagen aus Kärnten, Graz 1941.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Harald Hartmann, Februar 2006.
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