Hildegard von Stein
In der Nähe des Schlosses Saager, auf dem Felsen Skarbin, stand vorzeiten die große, mächtige, weit und breit bekannte Burg Proßnitz, in welcher der Graf Alboin mit seiner frommen Gemahlin Hildegard lebte. Da er einst in einen Krieg zog, der ihn vermutlich lange von der Heimat fernhalten sollte, übertrug er die Bestellung seiner Güter seinem Bruder Uduin. Dieser war aber ein böser Mann und suchte während der Abwesenheit des Grafen Hildegard von ihrem frommen Lebenswandel abzubringen. Er konnte es nicht leiden, daß sie tagelang am Fenster saß und dem inniggeliebten Manne fromme Seufzer und Gebete nachschickte und auch sonst bestrebt war, durch gute Werke für ihr und des geliebten Gatten Seelenheil zu wirken.
Da Uduins Reden ihr reines Herz nicht zu trüben vermochten, stellte er, geblendet von der Schwägerin Schönheit, ihrer Tugend nach; allein allen seinen sündhaften Anträgen gegenüber blieb sie standhaft. Dadurch im Innersten getroffen, brütete er Rachegedanken und gewann die Magd der frommen Gräfin, namens Lupa, durch Bestechung für seinen teuflischen Plan.
Als sich Alboin der Heimat näherte, ging ihm Uduin den ausgedehnten Schloßberg hinunter entgegen und erzählte ihm, daß ihm seine Gemahlin wahrend seiner langen Abwesenheit untreu geworden sei, mit dem Vermögen verschwenderisch gehaust, viele unnötige Feste veranstaltet und die Diener zu unmenschlichen Arbeiten gezwungen habe. Die Magd hatte sich, sobald sie von der Ankunft des Herrn gehört, vor das Schloßtor begeben. Sie saß nun auf einem Schemel, hatte einen Milchkübel vor sich und molk eine abgemagerte Kuh. Kaum trat Alboin in ihre Nähe, so brach sie in ein klägliches Geschrei aus und beweinte ihr hartes Los. Der Graf brauche sie nur anzusehen; eine solche Arbeit, und noch dazu vor dem Tore, sei gewiß nicht notwendig. Dabei wies sie auf die halb verhungerte Kuh und beteuerte, aus diesem Tiere eine bestimmte Menge Milch gewinnen zu müssen, um der Strafe ihrer quälsüchtigcn Gebieterin zu entgehen.
Als die Wut des Grafen bereits aufs höchste gestiegen war, schwor die treulose Dienerin, daß sie sofort zu Stein werden möge, wenn sie gelogen habe. Das wirkte. Nachdem Alboin diese und andere Reden gehört hatte, brach seine bisher mühsam bekämpfte Wut mit Gewalt hervor. Ohne sich umzusehen, stürmte er durch den Hof, die Stiege hinauf zur Kammer Hildegards. Liebevoll wie immer kam ihm diese entgegen, fuhr jedoch erschrocken zurück, als sie sein fürchterlich entstelltes Antlitz bemerkte. Ohne ein Wort zu verlieren, faßte er sie in sinnloser Wut und stürzte die ohnmächtig gewordene Gemahlin zum Fenster hinab. Nach dieser Tat eilte er zurück zur Magd, deren trügerische Worte ihn zu so unüberlegtem Handeln hingerissen hatten, und jetzt erst erkannte er die ganze Größe des Unheils. Er fand sie dort, wo sie den Meineid begangen, samt der Kuh, dem Melkkübel und Schemel in Stein verwandelt. Jäh aufsteigende Reue und Angst trieb ihn sturmschnell zurück zur Kammer, wo er nach seiner Gemahlin Ausschau hielt. Ein Blick durchs Fenster machte ihn vollends erbeben; denn er schaute sie nicht zerschmettert am Schloßabhange, sondern sah sie lebend mit einem schützenden Engel auf einem steilen Felsen sitzen. Rasch holte er ein langes Seil herbei, um die Gräfin heraufzuziehen, in dem Augenblicke aber erhob sie sich mit ihrem himmlischen Begleiter unter heiligen Gesängen und schwebte über die Drau, dem Schlosse Stein zu, wo sich beide niederließen. Mehr konnte er nicht sehen, denn das Augenlicht schwand ihm plötzlich.
Stein war gleichfalls ein Besitz des Grafen. Erst nachdem er erblindet war, sah er ein, wie voreilig er gehandelt hatte. Seinen Bruder brauchte er nicht zu suchen, denn er erschien ungerufen und bat kniefällig, indem er feine frühere Anklage widerrief, um Verzeihung. Vom Mtleid jetzt ebenso schnell ergriffen wie vorhin vom Jähzorn, versöhnte sich Alboin mit ihm und trat unter dem Namen Paul bald darauf eine Pilgerfahrt an. Sieben Jahre wanderte er von einem Heiligtum zum andern. Er gelangte nach S. Jago im spanischen Gallizien und gründete nachmals in der Heimat die Kirche des hl. Jakob in Gallizien bei Möchling. Auch das Heilige Land mit der Grabstätte des Erlösers sah den reuigen Büßer, dann pilgerte er nach Rom, wo er endlich vom Papste die Lossprechung seiner Sünden erwirkte. Mit dem Segen des Heiligen Vaters ausgestattet, schied er und trat die Heimreise an.
Von Möchling wanderte er nach Stein, damit ihm auch Hildegard seine Freveltat verzeihe. Da diese wußte, daß Alboin nur unter dem Einflüsse des Verleumders so grausam gehandelt hatte, verzieh sie ihm von Herzen und machte ihn dadurch, daß sie mit ihren sanften Händen über seine geschlossenen Lider strich, wieder sehend. Aber Hildegard konnte sich nicht mehr entschließen, die frühere Gemeinschaft wieder aufzunehmen, und so zog er nach Möchling zurück. „Sehen werden wir uns nicht", sprach sie beim Abschied zu dem trauernden Mann, „aber die Glocken sollen unsere Botinnen sein." Und wirklich dringt das Geläute von Stein nach Möchling über die Hügel, welche die Aussicht vom einen in den andern Ort verhindern. Alboin erbaute zum Dank für Gottes wunderbare Fügung in Möchling die Kirche, in der seine Gebeine noch jetzt ruhen. An seinem Sarge soll nach einer Stiftung Hildegards jeden Sonntag eine vom Pfarrer in Stein nach Möchling alljährlich abzuliefernde dicke Wachskerze brennen.
Nach dem Tode des Teuren errichtete Hildegard in Stein ein Spital zur Herberge und Pflege der Armen und Kranken. An ihrem Geburtstage, Anfang Februar, nahm sie jedesmal eine große Spende vor. Sie ließ dazu einen Ochsen im Werte von fünf Gulden schlachten und für die Menge der Dürftigen zubereiten. Nicht allzu oft konnte sich die fromme Frau an diesem Winterfeste der Armen betätigen, denn bald raffte auch sie der Tod hinweg. Ihr Haus war an diesem Tage außerordentlich erhellt und die Luft mit den lieblichsten Wohlgerüchen erfüllt. Sie wurde in der Kirche zu Stein beigefetzt.
An jener Seite des Felsabhanges, wo die hehre Frau auf wunderbare Weise dem Tode entging, sproßten aus dem nackten Gestein Lilien und Rosen, wie von der Hand des Gärtners gepflanzt. Oft sah man seitdem am Vorabende der jährlichen Gabenspende eine in ein blendend weißes Kleid gehüllte Frau durch das Haus wandeln und die für die Feier des kommenden Tages bereitgestellten Vorräte untersuchen, die dann von besonderer Ergiebigkeit waren. Ihre Einführung vererbte sich in die Gegenwart fort. Hildegard, welche hier als Heilige verehrt wird, soll nämlich in einem hinterlassenen Stiftbriefe ihr ganzes Vermögen zur Spende und Abspeisung der Armen bestimmt haben.
Am ersten oder zweiten Sonntag und dem vorherigen Freitag des Februar findet das sogenannte Strüzelwerfen statt. Reiche Bauern spenden der Kirche einige Säcke „Strüzel", welche aus Roggenmehl gebacken sind, in Form und Größe aber kleinen Semmeln gleichen. Unter feierlichem Glockengeläute werden sie von den Geistlichen zu Stein geweiht und sodann von der Ruine auf die im Schnee harrende Volksmenge geworfen. Die Spender der Brote, die anwesenden Geistlichen, der Rosenbergsche Förster und einige Kirchensänger haben das Recht, dieses Werk auszuführen. Jeder der Versammelten, unter denen sich namentlich viele Bettler befinden, sucht mehrere Strüzel zu erhaschen; denn es ruht ein besonderer Segen für das Vieh auf diesem Gebäck. Es schützt Mensch und Vieh vor Verzauberung, Krankheit und Blitzschlag und verhütet Unfälle auf hohen Bergen. Wenn ein solches Strüzel in der Hand eines Menschen zu schimmeln beginnt, kündet es dem Betreffenden baldigen Tod an.
Von dem Schlosse Proßnitz zeugen nur mehr wenige Mauerspuren. Die versteinerte Magd samt der Kuh, dem Schemel und Milchkübel fand man noch vor wenigen Jahrzehnten in einer Tropfsteinhöhle nächst dem schwindelnden Steig, der zur Höhe leitet. Das Volk nannte das Steingebilde, welches bei einiger Einbildung ein melkendes Weib erkennen ließ, „die steinerne Melk"; doch ist es mit der Zeit durch Abschlagen von Steinen, welchen das Volk eine heilsame Wirkung für kranke Augen zuschrieb, vollständig verstümmelt worden. Auf der Höhe des Skarbin, wo dereinst die Burg stand, in der Nähe des Absturzes, wo Alboin sein Weib in die Tiefe warf, blühen noch jetzt ungezählte rote Federnelken.
Vom Spital zu Stein ist gegenwärtig auch nicht viel mehr zu sehen. In den Trümmern wird noch ein Zimmer gezeigt, worin die hohe Wohltäterin gewaltet haben soll. Das Schloß ist gänzlich verfallen. Die Kapelle aber blieb noch lange Zeit erhalten; ein durch Unvorsichtigkeit des Glöckners ausgebrochenes Feuer legte sie sowie die letzten Reste des Schlosses in Trümmer. Die Kirche wurde über dem Staube der seligen Stifterin neu aufgebaut, und ein Grabstein bezeichnet die Stelle, an welcher Hildegard ruht. Wegen ihrer Verdienste wurde sie von einem späteren Papste heiliggesprochen. An ihrem Todestage wird dies in der Kirche verkündet und aus diesem Anlasse ein großes Fest gefeiert. Bei den Leuten der Umgebung ist jedoch der Name Liharda oder Likart gebräuchlicher als Hildegard.
Quelle: Georg Graber, Sagen aus Kärnten, Graz 1941.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Harald Hartmann, Februar 2006.
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