Die verwunschene Jungfrau in Neuhaus
Das Geschlecht derer von Neuhaus bei Gurnitz ist längst erloschen und von der Stätte, wo es gehaust, erübrigen nur spärliche Mauerreste. Ist das Schloß auch zerfallen, so lebt doch die Sage von der „verwunschenen“ Jungfrau noch fort im Munde des Volkes. Ein Hirtenkind, ein frommes, gutes Mädchen, das früh aufstand und die Kühe weidete, kam eines Morgens auf einen üppig grünen Platz in der Nähe des alten Schlosses. Da sah es eine schöne, junge Frau auf einem Steine sitzen, zu deren Füßen ein Tuch ausgebreitet war, auf dem eitel Gold und Silber lag. Als die Frau das Mädchen bemerkte, sprach sie zu ihm: „Kind, wenn du wieder hieherkommst, da werde ich eine große, häßliche Schlange sein, werde in meinem Munde mehrere Schlüssel tragen und dich zu einer geheimnisvollen Tür führen, dort mußt du mir die Schlüssel abnehmen und die Tür aufsperren.“ So war es auch. Am nächsten Morgen kam das Mädchen zur gleichen Stelle und fand, wie die Frau gesagt, eine entsetzlich große, häßliche Schlange vor einem Toreingange liegen. Obgleich es der Worte jener Frau gedachte, hatte es doch nicht den Mut, der Schlange die Schlüssel aus dem Maule zu nehmen, sondern entfloh. Während es davonlief, vernahm das Mädchen ein klagendes Gewimmer und verstand die Worte: „O weh! o weh! o weh! Wann kommt die Zeit meiner Erlösung? Die Raben meines Waldes werden den Tannensamen erst streuen, aus dem der Baum wachsen wird für die Wiege des Kindes, welches wieder imstande sein wird, mich zu erlösen.“
Quelle: Georg Graber, Sagen aus Kärnten, Graz 1941.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Harald Hartmann, Februar 2006.
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