Die Jungfrau mit dem Schleier
Bei Feldkirchen erhebt sich ein kleiner Berg, die Polenitzen genannt. In dem Berge befindet sich eine Höhle, die sich nach hinten zu einem schmalen Gange verlängert und sich angeblich durch den ganzen Berg hinzieht. Die Sage erzählt, daß dort vor vielen, vielen Jahren eine Einsiedlerin lebte. Niemand wußte, woher sie gekommen war noch wie sie hieß. Doch daß sie von hoher Abkunft sei, vermutete man überall; denn Leute, welchen sie am nahen „Kuchelbrunnen“ beim Wasserschöpfen begegnet war, hatten schon öfter an ihren Fingern kostbare Ringe bemerkt. Sie war von wunderbarer Schönheit, und wer sie sehen wollte, ging des Morgens zum Brunnen, um Wasser zu holen, denn zur Morgenstunde pflegte sie beim Brunnen ihr schönes Haar zu waschen. In ein graues Gewand war ihre schlanke Gestalt gehüllt, am Kopfe trug sie einen Schleier. So ward sie immer gesehen, doch kein Mensch konnte sich rühmen, auch nur ein Wort über ihre Herkunft von der geheimnisvollen Frau vernommen zu haben. Als sie eines Morgens wieder ihr Haar wusch, vergaß sie bei der Rückkehr den Schleier beim Brunnen. In der Höhle suchte sie vergeblich nach dem kostbaren Kleinod. Am nächsten Morgen aber schritt sie wieder zum Brunnen, und siehe, ein Jüngling stand vor ihr und hielt den vielgesuchten Schleier in der Hand. Doch stellte er an dessen Rückgabe die Bedingung, daß die Frau ihm ihre Lebensgeschichte erzähle. Da Hub die Einsame an: „Ich bin eines mächtigen Königs Tochter und liebte einen Jüngling, der mich verschmähte. Da ich geheimen Zaubers kundig war, verwandelte ich ihn in einen Stein, um ihn zu strafen. Als mein Vater dies erfuhr, verstieß er mich und sprach einen harten Fluch aus. Nun ist mein Los, zu warten, bis er erlöst ist, und dies geschieht, wenn am Himmel drei Sterne mit rotem Licht erscheinen. Dann darf ich ihn einmal küssen, und wir müssen beide sterben.“ Heute noch wandelt die schöne Prinzessin in der Gegend und harrt der Sterne, die ihr Schicksal bedeuten.
Quelle: Georg Graber, Sagen aus Kärnten, Graz 1941.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Harald Hartmann, Februar 2006.
© digitaler Reprint: www.SAGEN.at