Die verwunschene Jungfrau von Wildenstein
An einem Sommertage mähten mehrere Männer auf einer Waldwiese bei der Ruine Wildenstein; sie waren schon seit Morgengrauen an der Arbeit und verspürten starken Hunger, denn es ging bereits gegen Mittag, als die Dienstmagd des Bauers, dem die Wiese gehörte, für sie das Mahl brachte und die Schüssel innerhalb des Zaunes, der die weite Wiese umgab, zu Boden stellte. Dann rief sie die Männer, von denen jeder an einer anderen Stelle mähte, herbei. Während der kurzen Zeit, da sie den Blick von der Speise abwandte, hatte sich eine große Schlange, mit einer Krone auf dem Haupte, unbemerkt in die Schüssel mit der Mähderkost geschlichen. Als jetzt das Weib sich mit der Schüssel zu schaffen machte, erblickte es zu seinem Entsetzen das grauenerweckende Tier. Mit unheimlicher Ruhe verweilte dies auf seinem Platze und das Weib besaß nicht soviel Mut, heranzutreten und es auf den Boden zu schütteln. Mittlerweile näherten sich die Mähder, welche die fahrlässige Magd sicher gescholten haben würden, wenn sie die Schlange auf ihrer Kost erblickt hatten. Ihre Angst stieg mit jedem Augenblicke; aber als hätte das Tier aus den Augen des Weibes gelesen, erhob es sich, bevor der erste zur Stelle kam, und kroch in den Wald zurück. Die Männer ließen sich auf der Erde nieder und die Magd setzte ihnen, ohne von dem Vorfall etwas zu erwähnen, das Mahl vor. Sie konnte ein geheimes Bangen nicht unterdrücken, daß alle an der vergifteten Speise umkommen würden, aber gerade das Gegenteil trat ein: sie lobten einmütig den vortrefflichen Geschmack des heutigen Mahles.
Diesmal schwieg sie. Erst als im nächsten Jahre bei gleicher Gelegenheit die Leute sich ihr gegenüber beklagten, daß ihnen das Essen nicht so munde wie damals, verriet sie ihnen, was an jenem Tage geschehen war. Darüber entspann sich ein lebhaftes Gespräch; es könne keine gewöhnliche Schlange gewesen sein, die so zutraulich zu Manschen kam; sie müsse diesen freundlich gesinnt sein, sonst wären wohl alle, die von jener Speise genossen, längst geworben. Endlich ging man wieder an die Arbeit.
Seit jener Zeit ließ sich die Schlange mehrere Jahre nicht mehr sehen, bis ein merkwürdiger Zufall wieder Kunde von ihr brachte. An einem Sommertage weidete nämlich ein Hirtenknabe in der Nähe der Ruine Wildenstein die Rinder seines Vaters. Da erschien ihm plötzlich eine schöne Jungfrau, die auf ihn zuschritt, ihn mit traurigen Augen anblickte und sprach: „Wenn du befolgst, was ich dir aufgebe, so kannst du mich erlösen und alle Schätze heben, die jetzt ungenutzt liegen. Ich bin eine verwunschene Jungfrau!“ Der Knabe fragte sie, was für eine Aufgabe er zu lösen habe, worauf sie erwiderte: „Das erste Geschöpf, das dir auf dem Heimwege begegnet, sollst du aufheben und küssen. Dann bin ich endlich erlöst.“ Damit war sie plötzlich verschwunden. Als er am Abend die Kühe heimtrieb, war das erste Geschöpf, das er am Wege antraf, jene Schlange, die vor Jahren der Magd erschienen war und sich in die Speiseschüssel geschlichen hatte. Vor Schreck wich er bei ihrem Anblicke zurück und getraute sich nicht, den Auftrag der Jungfrau auszuführen. Jetzt stand wieder die Jungfrau vor ihm und sagte: „Weil du mir nicht gefolgt hast, muß ich noch so lange auf meine Erlösung warten, bis zu Wildenstein eine Fichte mit drei Wipfeln erwachsen ist. Aus den Brettern ihres Stammes wird dereinst eine Wiege gezimmert, in welcher mein Erlöser schlummern soll.“
Quelle: Georg Graber, Sagen aus Kärnten, Graz 1941.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Harald Hartmann, Februar 2006.
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