Der Längsee

An der Stelle, wo sich heute der liebliche Längsee ausbreitet, nach welchem die Ortschaft St. Georgen ihren Beinamen führt, lag einst, umrahmt von grünen Wäldern und prangenden Wiesen, das Dörflein Sankt Georgen bei Taggenbrunn. Auf einem sanften Hügel in der Mitte der Ansiedlung erhob sich ein schmuckes Kirchlein, wo einer alten Weissagung gemäß täglich eine Messe gelesen werden mußte. Ein Priester hatte nämlich einst geträumt, daß das ganze Dorf mit seinen Bewohnern versinken würde, sobald man von diesem heiligen Gebote abginge. Mit großem Eifer sorgten daher die frommen Dörfler dafür, daß der Gottesdienst in ihrer Kirche ja nicht einmal unterblieb. Als jedoch in den Tagen großer Wanderungen ein fremdes Volk in die Gegend kam und die Einwohner vertrieb, geriet der Ursprung und Zweck des frommen Brauches in Vergessenheit; und da kein christlicher Gottesdienst mehr abgehalten und die Kirche vernachlässigt wurde, erfüllte sich alsbald die Voraussage jenes Priesters. Allmählich begann das Dorf und die nächste Umgebung zu sinken, der Boden senkte sich immer tiefer, ohne daß die Umwohnenden es zunächst merkten. In einer Nacht jedoch - es war gerade zu Allerseelen - brach plötzlich wie aus tausend Quellen Wasser aus dem Boden hervor, und ehe noch der Morgen graute, war das Dorf samt den Menschen, die es bewohnten, in den Fluten verschwunden. Das Wasser stieg immer höher, und so entstand der See, welcher sich einst vom heutigen Schrattenfelde bis nach Fimming erstreckte. Wegen seiner Länge erhielt er den Namen der Lange See. Doch hat er seine ursprüngliche Ausdehnung schon fast zur Hälfte eingebüßt. Auf welche Weise dies geschah, erzählt eine andere Sage.

In dem See hielt sich vor Zeiten ein riesiger Fisch auf, der immer an derselben Stelle stand, wo es am tiefsten war, und sich durch kein Mittel von seinem Platze vertreiben ließ. Nach und nach bildete sich auf seinem Rücken, der über den Wasserspiegel ragte, durch angeschwemmtes Erdreich und Seegras eine Insel, mit der er untertauchte, sobald jemand aus Neugierde oder Übermut seinen Fuß darauf setzte. Auf dem Eiland wurde schließlich eine Kirche erbaut, in der jeden Tag eine Messe für die armen Seelen der Ertrunkenen gelesen wurde. Mit diesem frommen Brauche war eine alte Weissagung verbunden. Sollte nämlich einmal der Fall eintreten, daß eine Woche hindurch der Gottesdienst unterbleibe, so werde die Kirche jeden Tag tiefer sinken und endlich samt dem Ungeheuer verschwinden. Aber auch der See werde dann allmählich versiegen und das Wasser zuletzt ganz ablaufen. Wirklich ereignete es sich später, als die dort ansässige Bevölkerung von fremden heidnischen Völkern vertrieben wurde, daß kein Mensch die Kirche mehr betrat und sie verlassen auf der Insel stand. Niemand beachtete anfänglich, daß sie von Tag zu Tag schneller sich dem Wasserspiegel näherte. Endlich am achten Tage, als die Leute morgens zur Arbeit gingen, bemerkten einige, daß der See unruhig wurde und immer höhere Wellen schlug, obgleich vollkommene Windstille herrschte. Sie eilten nun ins Dorf zurück und holten Leute herbei. Da strömte eine große Schar dem Ufer zu, aber im selben Augenblicke verschwand der größte Teil der Wasserfläche; man hörte noch ein fernes Rollen, und schon entstieg dem See ein dichtes Gewölke, welches sich über die Gegend breitete, daß man keinen Schritt weit sehen konnte. Als endlich der Nebel zu steigen begann, bot sich den Augen der erschrockenen Bewohner ein trauriges Bild. An die Stelle des blauen Sees und der freundlichen Insel war sumpfiger Boden getreten, der mehrere schwarze Löcher aufwies, die sogenannten Meeraugen.

In einem dieser Meeraugen soll einst ein Bauer mit seinen zwei Ochsen spurlos verschwunden sein. Als man nun nachgraben wollte, erschien ein weißes Männlein und gab den Leuten zu verstehen, daß ihre Mühe nutzlos sei, den Bauer könnten sie nicht mehr retten. Seit jener Zeit aber sieht man jeden Abend und besonders in dunklen Nächten ein flackerndes Irrlicht über dem Sumpfe tanzen, das dann plötzlich wieder verschwindet. Der verunglückte Bauer soll nämlich für seine Sünden die Strafe erhalten haben, solange auf der Welt zu bleiben, bis einer kommt, um die versunkene Kirche auszugraben. Jeder aber trachtet, vor Einbruch der Nacht sein Heim zu erreichen, denn es ist nicht geheuer, allein dem ruhelosen Irrlichte zu begegnen.

So hört man häufig erzählen, daß einst ein Joch Ochsen, welches in den nahen, aber etwas höher gelegenen Kraigersee gefallen war, im Längsee mit vergoldeten Hörnern wieder zum Vorscheine kam. Demnach besteht zwischen beiden Gewässern eine geheime Verbindung. Manchmal sieht man in der Mitte des Längsees vom Grunde eine Turmspitze heraufragen und wer in der Allerseelennacht darüberfährt, hört auch ein leises, fernes Wimmern - das Jammern und Klagen der Seelen derer, die im See ertrunken sind.

Quelle: Georg Graber, Sagen aus Kärnten, Graz 1941.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Harald Hartmann, Februar 2006.
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