Leas’ln

In der Johannis-, Walpurgis- und Thomasnacht sowie am Christabend kann man den Schleier der Zukunft lüften. Besonders Mädchen, welche ihren zukünftigen Bräutigam kennenlernen wollen, benutzen diese Gelegenheit; am Vorabende des Johannistages, während des Gebetläutens, oder in der Christnacht während der Mette antwortet ihnen das Schicksal. Die Neugierige legt zu diesem Zwecke einen ganzen Laib Brot nebst einem Messer auf den Tisch und kehrt darauf ganz entkleidet die Stube aus, ohne nach dem Tische umzublicken. Schaut sie hierauf in den Spiegel, so grinst ihr der Tod daraus entgegen, wenn sie im folgenden Jahre sterben soll; oder sie sieht darin den kommenden Bräutigam in Nebelgestalt erscheinen. Dasselbe ereignet sich, wenn sie nach dem Auskehren von der Tür her einen Blick zwischen den Beinen durch nach dem Tische wirft. Ist ihre Neugierde gestillt, so muß sie sich schleunigst entfernen, damit der Böse über sie keine Gewalt erlangt.

In der Feldkirchner Gegend geschah es einmal, daß eine neugierige Kuhdirn die Bäuerin ins Vertrauen zog und sie um Rat fragte, wie sie ihren künftigen Bräutigam kennenlernen könne. Die Bäuerin verwies auf den alten Brauch, und am Heiligen Abend tat die Magd, wie ihr geheißen. Sie kehrte nackt die Stube und blickte dann in der vorgeschriebenen Stellung nach rückwärts zur Tür, wo zu ihrem Schrecken der Bauer stand. Voll Verdruß ging sie zur Bäuerin und beklagte sich, daß sie den Bauer in ihr Geheimnis eingeweiht habe. Doch die Bäuerin erwiderte gelassen: „Nein, das ist nicht so. Wenn du einst deinen Kindern ein Stück ‚Reindling’ abschneidest, dann gib auch den meinen ein Stücklein Brot!“

Quelle: Georg Graber, Sagen aus Kärnten, Graz 1941.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Harald Hartmann, Februar 2006.
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