Der Mutter Tränen
Am Faakersee ist folgende Sage verbreitet: Einer Frau starb ihr einziges Kind und sie weinte darob Tag und Nacht. Doch die Tränen konnten ihren großen Mutterschmerz nicht lindern, und so ging sie in ihrer Verzweiflung zum Pfarrer um Rat. Dieser riet ihr, um Mitternacht in die Kirche zu gehen und dort der Dinge zu harren, die da kommen würden.
Schon geraume Zeit sitzt sie in einem Stuhle, als sie gegen drei Uhr morgens ein Rauschen hinter dem Altar vernimmt. Da kommen die Kleinen, die verstorbenen Kinder des Dorfes hervor, mit zarten Schleiern angetan, jedes ein Krönlein auf dem kleinen Haupte. Als letztes sieht sie ihr eigenes Kind, doch ohne Krönlein. Statt dessen trägt es ein Schaff, und die Mutter sieht, wie schwer es dem Kinde fällt, an der Last zu tragen. Und es trippeln die Kleinen um den Altar und jedes hat etwas zu opfern, ein Gebet seiner Mutter; nur ihr Kind hat nichts, nichts als Tränen, welche die Mutter um ihr Kind geweint, und diese will es als Opfer hingeben. Jetzt fällt es der Mutter schwer aufs Herz, daß sie in ihrer großen Trauer versäumt hatte, für das tote Kind zu beten.
Und als sie am nächsten Sonntag um Mitternacht sich wieder in der Kirche einschloß und die Kleinen abermals zur Opferung kamen, da wurde sie mit Freuden gewahr, daß auch ihr Kind ein Krönlein wie die anderen trug, nur daß es heute als erstes um den Altar trippelte; es hatte von allen Kindern das größte Opfer: viel heiße Gebete der armen Mutter.
Quelle: Georg Graber, Sagen aus Kärnten, Graz 1941.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Harald Hartmann, Februar 2006.
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