Die Nixe im Koralpensee
In einer Almhütte, es mag wohl die Hipflhütte gewesen sein, saß eine gar lustige Gesellschaft, Almer und Jägerleut. Ziemlich laut ging es zu, bis ein langhallendes, donnerähnliches Geräusch alle verstummen ließ.
„Hui", rief ein alter Senne, „das Wasserweib da oben hat lange Weil', hat sie wohl schon lange niemand heimgesucht! Haha! Wird sich wohl jeder hüten." - „Erzähl', erzähl'!" riefen viele Stimmen; denn die Gebirgler lieben Märchen und Sagen, und manch einer war darunter, der von dem Wasserweibe noch nichts wußte. „Wohl, wohl, Zeit lassen!" war die Antwort. Der Alte stopfte sich sein Pfeifchen, nahm einen tüchtigen Schluck Schilcher und begann: „Hab' sie ja mit eigenen Augen gesehen. Wird wohl schon vierzig Jahre her sein - damals war ich noch ein frischer Bursche -, hat mich einmal die Sennerin zur Bodenhütte geschickt. Heiß und schwül war's, da hab' ich mich für einen Augenblick ins Gras gelegt, nicht weit vom See. Ganz unvermerkt bin ich eingeschlafen. Da auf einmal fangt's zu singen an, und ich schau auf. Der See wirft starke Wellen, sonst ist alles still. Das Singen hat fortgedauert, und jetzt hab' ich mich beim Ohr gerissen, ob ich nicht träume, denn aus dem Wasser ist ein Weibsbild gestiegen, so schön hab' ich noch keines gesehen. So schön, daß ich sie euch nicht beschreiben kann." - Der Alte schwieg. Einer der Burschen, ein rechter Raufbold, brach endlich den Bann, der die stämmigen Älpler gefangen hielt: „Die möcht' ich auch sehen!" - „Ich rat' dir's nicht!" fuhr nun der Alte auf. „Wirf nur einen Stein in den See, so siehst du sie gleich, aber ich rat' dir's nicht!"
Niemand merkte während der Wechselrede, die nun folgte, daß einer die Hütte in Hast verlassen hatte. Dieser eine hatte mit brennenden Augen der Erzählung des Alten gelauscht. Es war Franz, ein schmucker Jäger. Wohl war er keck und verwegen, wenn es ein kühnes Wagestück galt, doch kein Mädchen im ganzen Gebirge konnte sich rühmen, von ihm je ein Sträußchen Edelweiß oder Kohlröslein oder auch nur eine einzige tiefblaue Enzianglocke, einen einzigen Stengel Speik erhalten zu haben. Und jetzt irrte er durch die sinkende Nacht dem See zu, manchmal vor sich hinmurmelnd: „Die Wasserfrau will ich sehen." - Da lag der See vor ihm, doch finster war die Nacht und nur wenige Sterne spiegelten sich in der schwarzen Flut. Schon hob seine Hand den Stein, da ging plötzlich ein Schauer durch seine Gestalt, aber nur einen Augenblick - der Stein fiel in weitem Bogen in den See.
Drunten in der Hütte hörte man ein fürchterliches Donnern, das nimmer enden wollte und so schaurig klang wie noch nie. Der alte Senne, der gerade eine Geschichte beendet hatte, sagte: „Heut gibt sie schier nimmer Ruh', die Wasserfrau da oben."
Am nächsten Morgen fand man den Jäger tot am Ufer des Sees. Aber seine starren Augen waren weit geöffnet nach dem See gerichtet, als sähen sie noch immer die schöne Wasserfrau.
Quelle: Georg Graber, Sagen aus Kärnten, Graz 1941.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Harald Hartmann, Februar 2006.
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