Der Raiblersee

Ungefähr zwei Wegstunden von Tarvis entfernt liegt die Ortschaft Raibl, und in ihrer unmittelbaren Nähe, zwischen hohen Bergen eingebettet, der schöne Raiblersee. Vor vielen, vielen Jahren stand in dem Talkessel, den jetzt der See ausfüllt, ein freundliches Dörfchen, umgeben von Äckern und Wiesen, die jährlich so reichen Ertrag brachten, daß sich die Bewohner großer Wohlhabenheit erfreuten. Weil es ihnen nun zu gut ging, und sie keine Sorgen kannten, verloren sie jegliches Gefühl für die Not ihrer Mitmenschen, sie wurden hochmütig und hartherzig. Klopfte ein Armer an ihre Türen, so wurde er barsch abgewiesen, den Bettlern bot man statt milder Gaben Scheltworte und jagte sie unbarmherzig von dannen.

Eines Abends kam ein armes, unbekanntes Weib mit einem lieblich schönen Kinde auf dem Arm ins Dorf. Hunger ist der schlimmste Gast und Elend der schrecklichste Gefährte. So ging die arme Frau von Haus zu Haus und bettelte für sich und ihr wimmerndes Kindlein um ein Nachtmahl und bescheidenes Lager; aber überall schlug man vor ihr die Türe zu und höhnende Reden folgten ihr durch die Dorfstraße. Ganz trostlos über diese Unbarmherzigkeit der Menschen stand sie, vor Kälte und Hunger zitternd, im Freien und konnte nicht einmal das unschuldig leidende Kindlein vor Regen und Wind schützen. „Ich verdiene es, daß man mich fortjagt", jammerte sie, „aber was hat mein armes Kind verbrochen, daß es solchem Unglück preisgegeben ist?" Helle Tränen fielen bei diesen Worten zur Erde, aber ihre Klagen stiegen auf zum Himmel. Schon wollte sie sich unter freiem Himmel zur Ruhe legen, als sie draußen vor dem unwirtsamen Dorfe eine einzelne Hütte erblickte und bangen Herzens darauf zu ging. Auf ihr zaghaftes Klopfen erschien ein silberhaariger Greis in der Türe und nahm die Bedauernswerte samt ihrem Kinde voll Mitleid in seinem Häuschen auf, bewirtete sie, so gut er vermochte, und bereitete ihr ein weiches Strohlager. Mit einem Male brach ein schreckliches Ungewitter los; es rollte und schallte von den Bergen, daß die Erde zitterte, und unter Blitz und Donner ergossen sich die Regenströme auf das sündhafte Dorf. Himmel und Erde schienen ihren Zorn über die unbarmherzigen Menschen zu entladen. Als früh am Morgen der Greis erwachte, war die Fremde verschwunden; der Sturm hatte sich wieder gelegt, aber welch ein Anblick war es, als er vor die Hütte trat und statt des Dorfes eine weite Wasserfläche schaute, aus der nur noch seine Behausung hervorragte. Gott hatte, gerührt durch die Tränen des armen Weibes, diese furchtbare Strafe über die unbarmherzigen Manschen verhängt. Heut noch kann man auf einer kleinen Insel mitten im See die Hütte jenes alten Fischers sehen, und in der Christnacht soll aus dem See ein leises Wehrufen und trauriges Glockengeläute zu hören sein.

Quelle: Georg Graber, Sagen aus Kärnten, Graz 1941.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Harald Hartmann, Februar 2006.
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