Vom Reißkofelsee
Vor alter Zeit bestand am Fuße des Reißkofels im Gailtale eine große Stadt, Risa mit Namen, deren Bewohner außerordentlich reich waren. Nun wütete einmal sowohl in Kärnten als in den Nachbarländern ein schrecklicher Krieg, und in der Stadt zeigten sich täglich mehr Flüchtlinge, welche berichteten, daß schon die nächsten Ortschaften vom Feinde besetzt seien. In der Bevölkerung herrschte darob große Aufregung, und jeder suchte seine kostbarste Habe, so gut es ging, in Sicherheit zu bringen. Auch ein altes, häßliches Weib, das als die Reichste, aber auch Geizigste galt, raffte alle seine Schätze zusammen und ließ sie zum See schaffen, wo es ein sicheres Versteck wußte. Sie selbst packte die kostbarsten Kleinode in ein Kästchen und begab sich damit in die einsame Bergwildnis am Reißkofel. Eines Morgens lag die Stadt noch in tiefem Schlafe, nur hin und wieder krähte ein Hahn; da pochte es laut an die Türe des Schultheißen, daß dieser erschreckt aus dem Schlafe fuhr und die Seinen weckte. Dann wurde der Friedensstörer eingelassen, es war ein Vorbote des heranrückenden Heeres. Nachdem er sich an dem dargereichten Imbiß gestärkt hatte, begann er: „Herr Schultheiß! Ich komme, Euch zu warnen. Es ist uns bekannt, daß Ihr große Schätze in Eurer Stadt habt. Gebet uns alles heraus, was wir begehren, sonst soll es Euch übel ergehen. Auch die Geizige, von deren unermeßlichem Reichtume wir gehört haben, soll nach Vermögen zur Kriegssteuer beitragen. Sagt, wo sie zu finden ist, oder Ihr büßt mir für die eine!" Der Schultheiß, dem die Vorkehrungen der Frau bekannt waren, gestand nun mit schlotternden Knien, wo die Schätze verborgen waren, und sandte einige seiner Leute mit der Kriegerschar hinaus zum Reißkofelsee, während er selbst den Städtern die nötigen Weisungen erteilte, damit schlimmeres Unheil von der Stadt abgewendet werde.
Nach längerem Marsche langte die Horde, geführt von den Dienern des Schultheißen, am See an und sah gerade jene Frau, ein schweres Kästchen schleppend, das Ufer entlang gehen und ein sicheres Versteck für dieses suchen. Alsogleich wollte sich die Schar auf sie stürzen, um ihr den Schatz zu entreißen. Da ließ sie das Kästchen vor Schreck in den See fallen. Sobald es in den Fluten versank, verfinsterte sich der Himmel, ein heftiges Ungewitter brach los, und auf dem Kamme des Berges erschien eine leuchtende Gestalt, welche mit lauter Stimme die fremden Krieger vor weiterer Gewalttat warnte. Doch als diese darauf nicht achteten und, von Geldgier getrieben, auf die Schreckensbleiche zurannten, da zuckte mit einem Male ein greller Strahl in den Berg und riß eine gewaltige Scharte, die heute noch zu sehen ist. Ein heftiges Gewitter entlud sich über der ganzen Gegend, und die reiche Stadt ging mit Mann und Maus im See zugrunde. Fährt man auf einem Kahne über die dunklen Fluten, so sieht man auf dem Grunde des Sees einen goldenen Schimmer. Als nämlich die reiche Stadt in die Tiefe sank, breitete sich das schimmernde Gold am Grunde aus, und noch heute leuchtet es manchmal zur Höhe. Aber der Weg zum See, der im Reißkofel verborgen ruht, ist nur sehr schwer zu finden.
Einem Bauern glückte es, daß er einst, zwischen hohen Felsen versteckt, einen geheimnisvollen schwarzen Zaubersee entdeckte. Glänzende Goldzapfen tauchten von den Ufern nieder in die Flut, welche von Goldfischlein wimmelte. Er band einen der Kähne los, die er am Ufer fand, und fuhr auf den See hinaus. Als er ungefähr die Mitte erreicht hatte, beugte er sich über den Rand des Nachens, um nach einenm Goldfischlein zu haschen. Aber da kam die Nixe herbeigeschwommen, welche die versunkene Stadt mit ihren Schätzen bewacht, und stürzte das Fahrzeug um. Den Fährmann verschlang die Flut, und er sank und sank und wußte nicht, wie tief - die Sinne hatten ihn verlassen. Als er, ohne sich den Hergang erklären zu können, wieder erwachte, staunte er nicht wenig, sich in eine ganz fremde, von ihm noch nie betretene Gegend versetzt zu sehen, aus der er erst nach langem Suchen und Wandern den Weg zur Heimat fand.
Quelle: Georg Graber, Sagen aus Kärnten, Graz 1941.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Harald Hartmann, Februar 2006.
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