Ruscas Schutzbrief

Weithin bekannt ist die gastliche Stätte „Dürrnwirth" bei Völkermarkt. Wohl beinahe jedem fallen beim Eintritte in das Haus die vier Nägel auf, die eingerahmt und mit einer Anschrift versehen in der Haustür stecken. Die Inschrift erzählt, daß diese Nägel noch aus der Zeit stammen, als die Franzosen auf kärntischem Boden weilten. Es war im denkwürdigen Jahre 1809. Weitherum in Kärntens Gauen nur Unglück und Elend. Die Franzosen waren im Lande, die, wohin sie zogen, nur Spuren der Verwüstung und des Greuels zurückließen. Alles, was nicht niet- und nagelfest war, wurde geraubt und das Land durch Mord und Brand verheert. Die Bewohner verbargen ihre Kostbarkeiten und flüchteten mit ihrem Vieh in die Wälder und Berge. Dörfer und Gehöfte standen leer, verlassen von Menschen und Vieh, als die Franzosen auf ihrem Rückmarsch aus Steiermark unter der Führung des Generals Rusca auf der Reichsstraße von Unterdrauburg durchs Land zogen und beim „Dürrnwirth" vorbeikamen. Die Leute dieses Hauses waren gerade bereit zu fliehen, als das Heer der Franzosen eintraf. Die damalige Besitzerin, eine ehrwürdige Frau, namens Fink, faßte, als sie das heranrückende Heer sah, den Plan, den Führer zu bitten, er möge das Haus und seine Insassen schonen vor den Mißhandlungen und Gewalttätigkeiten der französischen Soldaten. Wenn man ihn so recht von Herzen bäte, glaubte sie, würde er der Bitte sicherlich Gehör schenken. Das Heer kam heran, die Frau ging wirklich dem führenden General entgegen und warf sich vor ihm auf die Knie, um Schonung bittend und zugleich versprechend, alles Gewünschte auszuliefern. Der Heerführer ließ einen Dolmetsch rufen und sich die Bitte der alten Frau übersetzen. Durch den Dolmetsch gab er der Frau dann zu verstehen, daß es ihn freue, daß sie so viel Vertrauen auch dem Feinde entgegengebracht und daß er dieses Vertrauen belohnen und Haus und Leute schützen werde. Er verlangte Tinte und Papier und stellte in französischer Sprache ein Schreiben aus, in welchem er ausführte, daß dieses Haus „Dürrnwirth" unter seinem Schütze stehe und nicht geplündert werden dürfe. Er unterzeichnete das Schriftstück mit seinem Namen. Auf seinen Befehl wurde es an die Haustür genagelt und bei Nacht noch ein Licht dazugestellt, daß die vorbeiziehenden Soldaten es lesen konnten. Immer war auch für die Vorüberziehenden Brot und Wein bereit, was die alte Frau aus Dankbarkeit bereitstellte. Lange war das Papier an der Haustüre befestigt gewesen zur Erinnerung an dieses Ereignis. Erst die jetzigen Besitzer haben es entfernt, um es anderweitig aufzubewahren. Nur die Nägel, die es gehalten, sind noch vorhanden und werden als kostbares Erinnerungszeichen sorgsam gehütet.

Quelle: Georg Graber, Sagen aus Kärnten, Graz 1941.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Harald Hartmann, Februar 2006.
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