Das gescholtene Salaweib
Bei einem reichen Bauer im Rosentale, der mehrere erwachsene Söhne hatte, erschien täglich ein Salaweib und legte sich, wenn der Abend kam, in der Schlafkammer des ältesten zur Ruhe, um sich in seinem Bette zu wärmen.
Eines Morgens trat die Bäuerin in das Gemach und sah das schöne Weib im Lager ihres Sohnes schlafen. Das lange, blonde Haar hing über den Bettrand auf den Boden. Gerührt von diesem Anblicke, wollte sie die Fremde nicht im Schlafe stören, sondern hob das wunderbare Haar vom Boden auf und legte es auf die Decke. Dabei erwachte das Salaweib und sprach tief bekümmert: „Mutter, warum habt Ihr das getan? Jetzt muß mich Euer Sohn heiraten.“ Die Bäuerin war von dieser Wendung der Dinge überrascht und zögerte mit der Antwort. Doch da der Bauer nichts gegen die Heirat einzuwenden wußte und dem Sohne die schöne Jungfrau gefiel, ward bald Hochzeit gehalten. Als der Brautzug zur Kirche aufbrach, stellte das fremde Weib eine Bitte: Nie solle man ihr etwas widerraten oder gar über eine Tat, die sie begehen würde, Unmut äußern. „Ich kann tun, was ich will, ihr dürft mich niemals schelten!“ Der glückliche Bräutigam wie seine Eltern gelobten gerne, ihr immer freien Willen zu lassen.
Darauf ward das Salaweib eine brave, tüchtige Hausfrau. Vom frühen Morgen bis zum späten Abend schaffte sie emsig, keine Arbeit war ihr zu schwer und alles geriet unter ihren Händen. Auch zwei schöne Kinder schenkte sie ihrem Manne, einen munteren Knaben und ein stilles Mädchen. Beide wuchsen heran und erweckten die stolzesten Hoffnungen des glücklichen Vaters.
Einmal ging die Mutter, begleitet von den Kindern, über die Draubrücke. Als sie mitten im Flusse waren, erfaßte das Salaweib, ohne ein Wort zu sagen, das Mädchen und warf es in den Fluß, wo es bald in den Wellen verschwand. Unbeschreiblich war das Entsetzen der Leute, als der Knabe zu Hause den Vorfall erzählte. Die Schwiegermutter gebärdete sich wie verzweifelt, da sie es nicht fassen konnte, daß das liebe Kind von der eigenen Mutter getötet worden war. Sie redete sich darob in solchen Zorn, daß sie die Schwiegertochter schließlich ein herzloses Weib schalt. Da nahm das Antlitz der Salafrau einen Zug unendlicher Traurigkeit an und sie sprach: „Weil Ihr mich gescholten habt, darf ich nicht länger bleiben. Jetzt muß ich zurückkehren.“ Bei diesen Worten entfernte sie sich und ließ den traurigen Gatten zurück.
Zusehends gedieh der Knabe und verriet von Tag zu Tag erstaunlichere Fähigkeiten, weshalb ihn der Vater für das Studium bestimmte. Aus dem Bauernjungen ward ein Geistlicher. Schon nahte der Tag, an welchem er in der Dorfkirche seine erste Messe lesen sollte. Das ganze Dorf und die Umgebung nahmen teil an dem schönen Feste, das einer aus ihrer Mitte feierte. Freudestrahlend, aber still versonnen, saß der Primiziant im Kreise der Seinen und der stolzen Bauern von nah und fern an der Festtafel, die in seinem Heimathause bereitet war. Da erschien plötzlich eine wunderbare Frau in der Stube, trat vor den jungen Priester und überreichte ihm einen großen goldenen Apfel mit den Worten: „Nimm dies als Primizgeschenk von deiner Mutter hin. Deiner Schwester geht es gut; ich habe sie damals in den Fluß gestoßen, weil ein früher Tod besser ist als ein schlechtes Leben. Sie wäre eine leichtsinnige Dirne geworden, wenn sie länger gelebt hätte.“ Dann verschwand das Weib. Es war das letztemal, daß sie sich in dem Hause, wo sie einst gelebt hatte, sehen ließ. Nie ist sie wiedergekehrt.
Quelle: Georg Graber, Sagen aus Kärnten, Graz 1941.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Harald Hartmann, Februar 2006.
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