Die Schlange von Reifnitz
In der Nähe von Reifnitz, am Südufer des Wörthersees, erhebt sich auf schroffem Fels die St. Margareten-Kapelle, darunter befindet sich eine Höhle. Unweit davon sieht man die Ruinen der einst bedeutenden Burg Reifnitz. An die altersgrauen Trümmer knüpft sich folgende Sage:
An einem Abende des Jahres 1302 legte sich ein junger Jägersmann, ermüdet von weitem Gange, zu kurzer Rast in das weiche Moos nächst der von riesigen Waldbäumen umstandenen Burg. Nicht lange ruhte er da und es flog aus dem Dickicht ein Häher auf, mit einer Eichelnuß im Schnabel. Der Jäger wollte den Vogel erlegen; aber als er den Bogen zu spannen beginnt, fühlt er sich wie gelähmt und gewahrt eine große Schlange, deren funkelnde Augen unablässig auf ihm ruhen. Das Weidmesser aus der Scheide reißend, gedachte er das ekle Tier zu töten. Dies richtete sich indes hoch auf und zischte ihm entgegen: „Wage es nicht, mich anzutasten.“ Entsetzen ergriff den Jüngling und er sank bewußtlos zu Boden. Als er aus seiner Betäubung erwachte, sah er im Dämmerlicht des neuen Tages die Schlange wieder, die, nicht ferne von ihm, unverwandt auf die Margaretenkapelle blickte. Und aus dieser trat ein silberhaariger, bleicher Mönch, ging auf die Schlange zu und sprach zu ihr: „Heute sind es vierzig Jahre, seit du mich das letztemal gesehen. Hast du die Zeit genützt, Jutta?“ - „Schweren Frevels bin ich mir bewusst“, antwortete die Schlangenstimme, „aber entsetzlich ist auch die Buße, der ich unterworfen bin. Wann wird mir endlich Gnade kommen?“ Und der Mönch tröstete: „Noch ist die Zeit der Sühne nicht verronnen, doch der Allgütige gedenkt deiner Erlösung. Du sahst den Häher, der gestern hier vorüberflog. Ich lähmte des Jägers Arm, auf daß er den Vogel nicht treffe und die Eichelnuß nicht auf jenes Steinriff falle und verdorre. Der Häher zog über den See zum Walde, wo ihm die Nuß entglitt und zu Boden fiel. Aus dieser wird eine Eiche wachsen und in der Wiege, die man aus ihrem Holze bauen wird, soll nach des Ewigen Ratschluß ein Kindlein schlafen, das, herangewachsen, dich durch seine guten Werke von deinen Qualen befreien wird.“ Plötzlich entstand eine glänzende Helle, Mönch und Schlange entschwanden dem Blicke des staunenden Jägers.
Achtzig Jahre danach feierte Burgherr Eckehard von Reifnitz die Taufe seines Töchterleins Ludmilla. Bei dem Festmahle gab es der Trinksprüche viele auf das Wohl des lieben Kindes, das in der von dem treuen Hausvogte der Reifnitzer kunstvoll geschnitzten Wiege lag. Und Eckehard erzählte seinen Gästen: „Der Eichbaum, aus dem die Wiege gefertigt worden, hat jenseits des Sees bei Leonstein gestanden, mehr als sechzig Jahresringe gewiesen und ist erst vor kurzem niedergeworfen worden. Betrachtet man die Wiege genauer, so sieht man im Geäder der Seitenwände und im Getäfel zu Häupten Schlangenringe, wie wenn sie ein Maler mit Absicht dort abgebildet hätte.“ Das flöße ihm Grauen ein, bemerkte der Burgherr weiter, denn es erinnere ihn an jene Schlange, die in der Chronik seines Hauses eine Rolle spiele und der Sage nach einmal in jedem vierzigsten Jahre ihren unterirdischen Verbannungsort verlasse. Diese aber erzähle nach alten Ausschreibungen folgendes:
Herr Cholo von Reifnitz, der Erbauer der Burg, hatte nebst mehreren Söhnen eine Tochter namens Jutta, die von entzückender Schönheit, aber stolzen, hoffärtigen Sinnes war und keine größere Lust kannte, als anderen und selbst Armen und Siechen Qualen zu bereiten. Einst begegnete sie nächst der Margaretenkapelle einem alten Mönche des Viktringer Klosters, der sich zum Gebete in dem Kirchlein anschickte. In ihrem Übermute schlug sie den Greis mit der Reitgerte und überhäufte ihn mit Schimpfreden. Geduldig, wortlos, nur einen strafenden Blick auf die Übeltäterin werfend, ertrug der fromme Mann die Schmach; aber das reizte die unholde Maid derart, daß sie ihre beiden Rüden auf ihn hetzte, die ihn zu Boden rissen und zerfleischten. Sterbend blickte er noch auf das grausame, mitleidslose Edelfräulein und sprach den schauerlichen Fluch: „Der Leib der Schlange werde deine Wohnung, sonder Ruh sollst du weilen an der Stätte deiner Freveltat. So büßend sollst du der Erlösung harren, bis eine Frau deines Stammes kommt, die schuldlos im höchsten Unglück als guter Engel auf Erden wandelt.“ Wenige Wochen später erlag Jutta einer schweren Krankheit; ohne Reue und Buße ging sie dahin. In der Nacht nach ihrem Begräbnisse aber sah man in dem Felsen, auf dem das Kirchlein steht, eine Kluft und davor lag eine riesige Schlange.
Das erzählte der Burgherr seinen Gästen. Indessen schlummerte seine Frau Brigatta neben der Wiege des Töchterleins in einer stillen Kammer. Träumend sah sie in dem Gemache plötzlich einen hellen Schein; an der Wiege richtete sich eine große Schlange empor und betrachtete mit leuchtendem Auge das schlafende Kind. Allmählich aber löste sich die Haut des Tieres ab und aus der Schlange ward eine Frau von wunderbarer Schönheit, aber wachsbleichen Angesichts. Und diese Gestalt neigte sich zur Wiege nieder und streckte die Arme nach dem Kinde aus. Vor Angst und Entsetzen erwachte die Burgfrau. Die kleine Ludmilla aber erwuchs zu einer frommen, edelsinnigen Jungfrau und wurde die Gattin des Ritters von Leonstein.
Quelle: Georg Graber, Sagen aus Kärnten, Graz 1941.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Harald Hartmann, Februar 2006.
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