Das Steinkreuz
An einer Biegung der Waldstraße, die von Weitensfeld nach Gurk führt, steht ein altes Steinkreuz. Das erinnert an eine grausige Begebenheit.
Hoch im Gebirge lebte vor langer Zeit ein frommer Einsiedler, der stand den Leuten in Krankheit und jeglicher Not getreu zur Seite und genoß weithin großes Ansehen. Bei jeder Gelegenheit wußte er die Leute zu trösten und ihnen Lebensmut einzureden. Als aber einmal die Pest ausbrach und sich unter den Berglern viele Opfer holte, wußte auch er keinen Rat mehr. Schon gab es beinahe in jedem Hause einen Toten. Nun wandten sich die Leute in ihrer Verzweiflung an eine alte Waldhexe, die hoch oben im Gebirge eine einsame Hütte bewohnte. Als sie vernommen hatte, wieviel der Pest bereits zum Opfer gefallen, verkündete sie, daß die Seuche erst ein Ende nehmen werde, wenn sich die Leute entschlössen, die schönste Jungfrau des Ortes lebendig zu begraben. Und zwar sollte es die sein, die nach dem nächsten Gottesdienste zuerst aus der Kirche trete.
Dazu konnten sich die biederen Bergler nicht entschließen, und so wütete die Seuche weiter. Da glaubten die Leute, es bliebe wohl keine andere Rettung mehr, als das furchtbare Opfer darzubringen. Sollte also lieber ein unschuldiges Mädchen sterben, als daß das ganze Dorf zugrunde gehe.
Es war Ostertag. Feierliche Glockenklänge riefen die Bewohner zur Kirche, wo alles inbrünstig den Worten des Pfarrers lauschte und sich der frommen Andacht hingab. Als nach Schluß des Amtes die ersten Leute ans der Kirche treten, entsteht ein heftiger Lärm. Drei handfeste Burschen haben sich auf das Mädchen gestürzt, das wohl weither gekommen sein mag, denn niemand weiß, wer es ist. Sie soll ihr Leben für das der Gemeinde geben. Auf ihr Angstgeschrei eilt der Priester herbei, um die wildgewordene Menge zu beruhigen und von ihrem grausamen Vorhaben abzubringen. Aber das Herz der Männer ist nach dem langen Leid, das die Pest über das Volk gebracht, zu Stein geworden. Schon haben mehrere Männer auf einem Hügel ein Grab ausgehoben und nun zerren sie das arme Mädchen, das vor Todesangst entsetzlich aufschreit, hin zur Grube, werfen es hinein und schaufeln es mit Erde zu, bis das letzte Röcheln verstummt und eine fürchterliche Stille eintritt.
Finstere Wolken hatten sich indes zusammengeballt und die Frühlingssonne bedeckt. Ein schrecklicher Sturm, begleitet von Regengüssen, setzte ein, immer grausiger tobte der Wind, fast schien es, als ob sich die Erde auftun wollte, um die herzlosen Leute zu verschlingen. Reißende Bäche brausten über die Hänge und wer sich nicht zur rechten Zeit in Sicherheit gebracht hatte, fiel dem Wasser zum Opfer. So mußten die Verblendeten den Rat der Hexe büßen.
Zur Erinnerung an das schreckliche Ereignis errichteten spätere Geschlechter an der Stätte, allwo einst das unbekannte Mädchen begraben ward, das einfache Steinkreuz. Wenn man um Mitternacht an dieser Stelle vorbeigeht, hört man leises Wimmern. Noch immer kann die arme Seele keine Ruhe finden. Noch allerlei abenteuerliche Gerüchte gehen im Volke um, so auch, daß das Mägdlein einmal im Jahre, und zwar an ihrem Todestage, in einem weißen Gewande zu sehen sei. Traurig schaut sie die Vorübergehenden an und verschwindet, wenn sich ihr jemand nähert.
Quelle: Georg Graber, Sagen aus Kärnten, Graz 1941.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Harald Hartmann, Februar 2006.
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