Die Tauben zu Tiffen

Auf einer Anhöhe am Rande des Dorfes Tiffen steht ein großes, altertümliches Haus mit weiten Toren und langen Bogengängen. Inschriften über den Toren an den Wänden erzählen, daß vor Jahrhunderten dieses Haus der Sitz des Landpflegers war. Und wirklich findet man, wenn man den Teil des Hauses gegen den aufsteigenden Wald durchsucht, tiefe, finstere Gewölbe, frühere Kerker, und sogar noch eine Folterkammer. In einem großen Saale des ersten Stockes hängt ein Bild von bedeutender Größe. Es ist mit einem breiten Rahmen umgeben und durch zwei Türflügel zu schließen. An dieses Bild knüpft sich folgende Sage:

Schon vor mehreren hundert Jahren kam in jedem Sommer eine Prozession aus Steiermark, um in dem Kirchlein zu beten und sich Segen zu holen für die Herbsternte. Alle Wallfahrer nächtigten in dem einzigen Gasthofe des Dorfes, beim Rauchenwald, wo auch der Pfleger wohnte, und welcher jetzt noch besteht. Die Tochter des Pflegers faßte eine innige Liebe zu einem schönen Jüngling, der sich unter den Steirern befand, aber er konnte ihre Gefühle nicht teilen, denn sein Herz gehörte schon einer anderen. In seiner Heimat hatte er sein Liebchen und die Treue verband beide recht innig. Die hochmütige und in ihrem Stolze tief beleidigte Pflegerstochter sann nun auf Rache, um Vergeltung zu finden für ihre verschmähte Liebe. Sie stahl den goldenen Becher ihres Vaters und legte ihn heimlich in das Ränzchen des Wanderers, der am nächsten Tage ahnungslos mit den Seinen die Heimreise antrat. Es dauerte nicht lange, so vermißte der Pfleger seinen Becher und fragte seine Tochter, wo er hingekommen sein könnte. Die Rachsüchtige wußte ihren Vater bald zu überzeugen, daß jener Jüngling, den sie jetzt beschrieb, den Becher habe. Schnell mußten mehrere berittene Knechte dem vermeintlichen Diebe nachjagen, um ihn samt der Beute zurückzubringen. Sie hatten ihn bald eingeholt und übergaben ihn dem Pfleger. Nun half kein Bitten und Flehen, kein Beteuern seiner Unschuld, er wurde verurteilt und von den Henkersknechten zum Galgen hinausgeführt. Bald war das grausame Werk vollführt. Seine letzten Worte waren: „Gott weiß, daß ich unschuldig bin."

Nach drei Tagen kamen die Eltern des unschuldig Verurteilten nach Tiffen, um ihren Liebling wenigstens als Leichnam noch zu sehen. Aber wer beschreibt ihr Erstaunen, als sie ihren Sohn noch lebend auf der Todesstätte antrafen. Schnell meldeten sie es dem Pfleger. Er saß gerade beim Mittagsmahl und hatte zwei gebratene Tauben vor sich auf dem Tische. Händeringend baten die unglücklichen Eltern, er möge ihnen ihren Sohn überlassen. Unerbittlich antwortete er: „Euer Sohn ist tot und war auch schuldig, so wahr diese Tauben nicht mehr fortfliegen können." Kaum waren diese Worte ausgesprochen, da flogen auch schon beide Tauben durch das offene Fenster ins Freie. Der strenge Richter erkannte die Fügung Gottes und bereute sein voreiliges Handeln. Er gab den noch lebenden Jüngling frei und Eltern und Sohn konnten wieder in ihre Heimat zurückkehren.

Jenes große Bild stellt eben den Augenblick dar, wie die Tauben sich in die Luft erheben. Alljährlich kommt auch jetzt noch die Prozession aus Steiermark nach Tiffen und bei der Messe der Wallfahrer wird das alte Bild auf den Altar gestellt. Sie lassen nicht ab von diesem hundertjährigen Brauch, denn sie behaupten, es würde sofort eine Mißernte eintreten, würden sie nicht immer in Tiffen bei diesem Bild um Segen bitten.

Quelle: Georg Graber, Sagen aus Kärnten, Graz 1941.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Harald Hartmann, Februar 2006.
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