Der Ursprung der Lieser

Die Lieser entspringt aus einem runden Loch inmitten einer steil abfallenden Felswand. Oberhalb der Lieserwand dehnt sich gegen den Sonnblick eine Schutthalde, das Lieserkar, das nach der Sage ehemals ein See war. In dem Berge befand sich einst ein ergiebiges Goldbergwerk. Infolge ihres Reichtums wurden die Knappen übermütig, schoben mit goldenen Kugeln nach ebensolchen Kegeln und trieben viel frevelhaften Spott. Aber einer unter ihnen, der stocktaub war, verehrte Gott und ging jeden Sonntag ins Tal zur Kirche. Wenn er die Genossen ermahnte, von ihrem wüsten Leben abzulassen, scholl ihm lauter Hohn entgegen, und an ihren Gesichtern merkte er, wie wenig sie auf seine Worte gaben. Eines Tages fuhren sie wieder in den Stollen, mit ihnen auch der taube, fromme Knappe. Eben wollten sie die Arbeit beginnen, als dieser anhielt und sagte, er höre ein gewaltiges Rauschen. Da erhoben sie ein schallendes Gelächter und schrien: „Wenn wir nichts hören, was soll dann erst ein Tauber erhorchen!" Noch einmal sprach er seine Warnung vergeblich aus, dann verließ er den Stollen. Kaum war er aus dem Rundloch ans Tageslicht getreten, so stürzte ein Wasserstrom aus dem Stollen und schwemmte seine Kameraden in die grausige Tiefe. Sie hatten nämlich den oberhalb des Bergwerks liegenden See angebohrt, und das Wasser nahm seinen Lauf durch den Stollen ins Freie. Der Gerettete besaß von nun an sein Gehör wieder, aber aus dem Stollen fließt seitdem ein Bach, den die Leute Lieser nennen. Der Name stammt angeblich von „lisnen", das heißt horchen, und erinnert an den tauben Knappen, der das Brausen des einbrechenden Wassers allein gehört hat.

Quelle: Georg Graber, Sagen aus Kärnten, Graz 1941.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Harald Hartmann, Februar 2006.
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