Der Waldmann
1. Im Rosentale lebte vor alten Zeiten ein Waldmann; er war am ganzen Leibe stark behaart und trug lange Nagel an den Fingern. Er machte das ganze Tal unsicher und ließ sich bald da, bald dort sehen, bis es einem Köhler gelang, ihn gänzlich zu verjagen. Er hatte sich nämlich eines Tages in der Köhlerhütte eingefunden und da er dort zu essen bekam, war er ständiger Gast der armen Leute geworden. Der Köhler, der genug zu tun hatte, um für sich und seine zahlreiche Familie den Lebensunterhalt zu schaffen, wurde schließlich des zudringlichen Gastes überdrüssig.
Der Waldmensch erhielt seinen Anteil am Essen stets auf die breite Hand gereicht und diesen Umstand benütze der Köhler, um ihn loszuwerden. Er gab ihm einmal einen Klumpen frischgekochten Brei, so daß der unheimliche Gast sich die Hand verbrannte und mit einem Wutgeheul die Hütte verließ. Seit dieser Zeit ward er in jener Gegend nicht mehr gesehen, aber noch heute gilt er als Schreckgespenst, womit man unfolgsame Kinder bedroht.
2. Einem Bauersmann, der seit Tagesgrauen Heiden (Buchweizen) mähte, brachte sein Weib das Frühstück auf den Acker. Während er nun auf dem angrenzenden Wiesenraine die Milchsuppe auslöffelte, kam der Waldmann herbei und lehnte sich über den Lattenzaun, daß dieser unter der schweren Last ächzte; sehnsüchtig sah er auf die Schüssel des Bauers. Dieser bemerkte ihn, stellte die Schüssel weg und überließ den Rest seines Frühstückes dem hungrigen Waldmann. Dafür segnete er die Felder des Bauers und ließ so viel Heiden geraten, daß er mit Leintüchern weggetragen werden mußte. Wenn ein Unwetter im Anzuge war, rief der Wilde Mann aus seiner Felsenwohnung: „Bauer, die Räder unter Dach!“ Damit meinte er die Wagen mit der aufgeladenen Ernte. So konnte der Bauer das Getreide zu rechter Zeit vor dem Hagel in Sicherheit bringen.
Quelle: Georg Graber, Sagen aus Kärnten, Graz 1941.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Harald Hartmann, Februar 2006.
© digitaler Reprint: www.SAGEN.at