Die weiße Rose

Das Kloster Arnoldstein im Gailtale war früher durch eine besondere Begünstigung des Himmels ausgezeichnet. Wenn die Klosterbrüder morgens zur Kirche gingen, um dort ihre Andacht zu verrichten, so geschah es manchmal, daß einer der Mönche auf seinem Betstuhle eine duftende weiße Rose fand. Dann küßte er sie in Demut und bereitete sich auf den Tod vor. Denn diese Blume war das Zeichen, welches Gott demjenigen sandte, den er noch an demselben Tage zu sich berufen wollte.

Einst kam eine Bettlerin mit ihrem Kinde, einem Knäblein, vor die Abtei und begehrte Einlaß und ein Nachtlager. Beides wurde ihr gewährt; aber während der Nacht starb die erschöpfte Bettlerin unvermutet und Johannes, ihr Söhnlein, hätte nun allein auf Gottes weiter Erde gestanden, wenn sich nicht der Pförtner seiner angenommen hatte. Das Knäblein wuchs allmählich zum stattlichen Knaben heran. Der Abt ließ ihn wegen seiner guten Begabung in der lateinischen Sprache und in den anderen Gegenständen der Klosterschule unterrichten. Der Jüngling zeigte ein stilles und versöhnliches Wesen und wählte den Priesterstand zu seinem Berufe.

Als er die Primiz las, da strömte, wie bei solchen Gelegenheiten immer, das Volk von allen Seiten herbei und unter andern auch ein schönes Mädchen, die Tochter des Verwalters der Fuggerschen Güter. Als sie sich beim Segen des Priesters mit dem übrigen Volke vordrängte, da traf sie des schönen Priesters Blick und er fühlte eine tiefe Regung in seiner Brust, und sie sah das Auge des errötenden Priesters wie beschämt sich senken. An diesem Tage war er trotz der Feierlichkeiten niedergeschlagen und sprach nicht viel, denn auch sein Herz war von sehnender Liebe berührt worden und der Gedanke an die Aussichtslosigkeit der plötzlich entflammten Neigung machte seine Seele traurig. Fortwährend schwebte ihm das liebliche Antlitz des Mädchens vor Augen, selbst im Traum verließ es ihn nicht und es begleitete ihn auch, als er selig lächelnd am nächsten Morgen als Erster in die Kirche trat. Er näherte sich seinem Platze. Da leuchtete ihm etwas Weißes entgegen. Zagend trat er näher, es war - die weiße Rose. Halb besinnungslos vor Schrecken legte er die todkündende Blume auf den nächsten Platz, dem blutenden Triebe der Selbsterhaltung folgend, denn das Leben schien so verheißend und beseligend zu locken. Als bald darnach die Brüder zur Morgenandacht kamen, erblickte der greise Pater Vinzenz, der Gott schon lange um Erlösung von dem Erdenleben gebeten, auf seinem Platze die Botin des Todes und freute sich innig, daß ihn Gott nun endlich zu sich berufen wollte. Kaum hatte er seinen Platz eingenommen, so fiel er tot in den Betstuhl nieder.

Noch am selben Tage kam die Pflegerin des Mädchens mit der besorgten Frage, ob man die Schutzbefohlene nicht etwa im Kloster gesehen habe. Sie habe sich in den frühesten Morgenstunden fortgeschlichen und sei bisher nicht wieder gefunden worden. Alle Leute machten sich auf die Suche nach dem Mädchen und fanden es endlich am Fuße des Felsens, aus dem das Kloster sich erhebt, mit zerschmettertem Körper liegen. Sie war freiwillig in den Tod gegangen. Gleich darauf stellte es sich aber auch heraus, daß sie es gewesen, die jene Rose in aller Frühe in den Betstuhl des neuen Mönches gelegt hatte, zum Zeichen ihrer unschuldigen Neigung. Doch davon wußte Johannes nichts, er erfuhr es erst viel zu spät. Tief erschüttert über den so plötzlichen Tod der Geliebten und von Gewissensbissen über den vermeintlichen Mord am Mitbruder gequält, trieb es ihn den ganzen Tag im Kloster umher. Nirgends fand er Rast, nirgends Ruhe. Um sein Vergehen zu sühnen, soll er sein ganzes Leben Werken der Barmherzigkeit geweiht haben.

So verging ein Jahr ums andere. Tag für Tag harrte er jetzt, daß ihm ein gütiges Geschick die weiße Rose auf seinen Platz lege, doch sein Warten blieb lange vergeblich. Eines Tages fand man den Neunzigjährigen sanft entschlummert auf dem Grabe des Paters Vinzenz, mit seiner Rechten die weiße Rose umklammernd.

Seit jenen Tagen aber hat Gott keinen mehr des Rosenwunders gewürdigt.

Quelle: Georg Graber, Sagen aus Kärnten, Graz 1941.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Harald Hartmann, Februar 2006.
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