Wilde Frauen
Der felsige, zum Teile zerklüftete Südabhang der Grebenze endet in ein schmales Hochtal, die Timerian genannt, in welchem einige Bauernhäuser stehen. Heute gehören diese „Huben“ zu den tiefer im Tale liegenden Besitzungen. Als aber in diesem stillen Erdenwinkel noch Bauern der Scholle mühsam ihr täglich Brot abrangen, hausten in den Felswänden der Grebenze Wilde Frauen von großer Schönheit. Sie gingen den Bauern mit gutem Rate an die Hand. „Jetzt ist es Zeit zum Weizensäen“ oder „Heute müßt ihr Bohnen setzen“, erscholl weithin ihr Ruf aus den Felsen und wohl dem Bauer, der dem Rate pünktlich folgte; der Segen blieb nicht aus. Samstags und vor hohen Feiertagen riefen sie die Feierstunde aus und der Bauer mußte im Augenblicke alles liegen lassen, wie es lag.
Einst wollte einer noch den hochbeladenen Erntewagen in die Scheune fahren, denn er war schon vor dem Tore angelangt, als der Ruf erscholl. Aber weh! Das Rad brach, ein Ochse stürzte und brach das Bein.
Dieser Segen für die Gegend sollte ein jähes Ende nehmen. Beim Bauer, der den Hausnamen Bår (Baier) führt, erschien jeden Morgen eine der Wilden Frauen und legte sich, wenn die Bäuerin aufgestanden war, zum Bauer in das breite Ehebett. Niemand fand ein Arg daran, selbst die gute Bäuerin nicht. Als diese eines Morgens das Schlafgemach betrat, um die dort stehende Milch für das Frühstück zu holen, sah sie, wie das Goldhaar der wilden Frau über den Bettrand auf den Boden flutete und ihr den Weg verlegte. Leise und vorsichtig hob sie es auf und legte es auf die Bettdecke. Da erhob sich die stolze Frau und verließ das Haus und alle zogen sie aus der Gegend von dannen. Nie mehr ward eine gesehen; still blieb es und einsam in den nahen Felsschluchten bis auf den heutigen Tag. Ähnliches erzählt die Sage von den Saligen Frauen.
Quelle: Georg Graber, Sagen aus Kärnten, Graz 1941.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Harald Hartmann, Februar 2006.
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