Der betrunkene Zwerg
Zu Windisch-Bleiberg befand sich früher, wie der Ortsname besagt, ein großes Bleibergwerk. Ein Bergmann, der die Gewohnheit hatte, immer ein Fläschchen Schnaps zur Arbeit mitzunehmen, um sich während der Ruhepause zu stärken, bemerkte seit einiger Zeit, daß auch ein Unberufener an seinem Labetrunk teilnahm, denn immer, wenn er von der Arbeit kam und die Flasche untersuchte, fehlte davon eine bestimmte Menge. Um der Sache auf den Grund zu kommen, nahm er eines Tages genau ein Viertelliter Schnaps, fuhr in die Grube und stellte den Imbiß mit der Flasche an den bestimmten Platz, wo die Bergarbeiter zur Rastzeit sich versammelten; als er nach der Arbeit wiederkam, fehlte zwar kein Bröslein Speise, wohl aber war die Flasche geleert. Den zweiten Tag steckte er die Flasche, mit einem halben Liter gefüllt, zu sich, und auch diesmal erging es ihm ebenso. Das drittemal endlich gelang es ihm, den Dieb zu ertappen. Es war ein niedliches Bergmännlein, das berauscht am Boden lag, da es den ganzen Liter Branntwein, der in der Flasche enthalten war, getrunken hatte. Der Bestohlene tat ihm jedoch nichts zuleide, sondern wartete, bis der Zwerg aus seinem schweren Schlafe erwachte. Er hatte jedoch nicht Zeit, ihn zur Rede zu stellen, denn kaum schlug dieser die Augen auf und übersah den Sachverhalt, so sprach er: „Willst du, daß ich dir die reichste Erzader des Berges zeige?“ Der Mann verzieh ihm jetzt nicht nur den kleinen Diebstahl, sondern versprach ihm ein ganzes Fäßlein solchen Getränkes, wenn er ihm den Ort zeige. „Komm nur mit“, erwiderte der Zwerg und führte ihn durch nie betretene Gänge im ganzen ausgedehnten Berg herum. Eine große Höhle nach der andern hatten sie schon durchwandelt, aber jetzt staunte der Knappe wie vor einem Wunder, denn er stand in einem geräumigen Saale, dessen Wände von Gold und Edelsteinen gleißten. Sprachlos folgte er dem Männlein weiter und endlich standen sie wieder an der Ausgangsstelle. Da fragte der Zwerg nicht ohne ein verschmitztes Lächeln, ob er wohl wisse, wo sie eben gewesen seien. Noch ganz außer sich über das Gesehene, erwiderte er „Nein“, worauf das Männlein sagte: „Wenn du eine Faustvoll Weizenkörner mitgenommen und auf dem Rückwege verstreut hättest, wüßtest du jetzt, wo der Schatz zu finden ist.“ Nach diesen Worten war es verschwunden.
Quelle: Georg Graber, Sagen aus Kärnten, Graz 1941.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Harald Hartmann, Februar 2006.
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