Der Zwerg im Dobratschsee

Während heute nur mehr die Kasra, die Roß- und Nudeltratte als Weideplätze für das Almvieh verwendet werden, war vorzeiten auch die Maas, heute mit Wald bestanden, eine saftige Matte. Sie liegt etwa an der Mitte des Fahrweges, der von Bleiberg auf den Dobratsch führt, und weist heute noch einen tiefen Schacht auf, von dem die Bewohner sagen, er habe eine solche Tiefe, daß man das Anschlagen eines hinabgeworfenen Steines eine halbe Stunde lang höre. Ein Halterbub, der hier einst nach Erdbeeren suchte, stürzte hinab, kam aber unverletzt nach langem Fallen in der Tiefe an. Nachdem er sich vom ersten Schrecken erholt, tappte er im Finstern vorwärts, bis er plötzlich in einem weiten, hellen Saale stand, der herrlich ausgestattet war. Er hatte kaum Zeit, all die Pracht zu bestaunen, da kam ihm ein lieblicher Zwerg entgegen. Da ihn dieser freundlich anblickte, wagte es der Junge, ihn nach dem Wege zu fragen, der aus dem Berge führte. Der Zwerg wies ihn nach einer Richtung und verschwand dann so plötzlich, daß der Halter sich des Vorganges kaum entsann und blindlings vorwärts ging, bis er in dem Dunkel, das ihn allmählich wieder umfing, auf einmal Wasser spürte. Er folgte dem Bächlein; dieses wurde immer tiefer und tiefer so daß er schließlich schwimmend sich einem schwachen Lichtschimmer zu bewegte, der anfänglich aus weiter Ferne wie ein Goldstück glänzte, aber je weiter der Hirte schwamm, desto größer wurde. Endlich erhellte sich der Gang, er verspürte wieder Grund unter den Füßen und plötzlich stand er am Ausflusse eines Bächleins vor dem Dobratsch. Es war der Nötschbach, dessen unterirdischem Laufe er gefolgt war. Bei den Leuten in Nötsch, Bleiberg und Kreuth herrscht noch der Glaube, daß dieser Bach den Abfluß eines Sees bilde, der im Berginnern sich ausbreitet, und man erzählt, daß der Hirte nach jenem Erlebnis zwar das Tageslicht erreicht habe, aber vor Erschöpfung an der Ausflußstelle des Nötschbaches gestorben und dort tot aufgefunden worden sei.

Quelle: Georg Graber, Sagen aus Kärnten, Graz 1941.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Harald Hartmann, Februar 2006.
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