Die Sage vom Venedigermännlein
Die Berge des Katschtales bargen reiche Schätze an Gold. Jedes Jahr um die Frühlingszeit kam zum Sandrieser in St. Peter ein kleines graubärtiges Männlein. Es gab sich als Wurzelgräber aus. Am Morgen zog es in die Berge, und am Abend kehrte es mit einem vollbepackten Sacke heim. Im Herbst verließ es das gastliche Haus. Alle konnten das Männlein wegen seines ruhigen, bescheidenen Wesens gut leiden. So war es eine Reihe von Jahren, dann blieb das Männlein aus.
Als der alte Sandrieser einst beim Fuhrwerken nach Venedig kam und durch die Straßen der Stadt schritt, hörte er sich beim Namen angerufen. Als er sich erstaunt umsah, winkte ihm aus einem schönen Palaste das bekannte Männlein zu und bedeutete ihm, näher zu kommen. Als er das Haus betrat, kam ihm das Männlein entgegen, aber kostbar gekleidet. Es erklärte dem Sandrieser, dass dieser Palast sein eigen sei. Auf sein Befremden hin, führte er ihn in ein Zimmer, wo an der Wand ein einfacher, runder Spiegel hing. Wie erstaunte nun der Bauer, als er in den Spiegel blickte. Er sah darin die heimische Küche, sah sein Weib, das gerade beim Herde stand und Krapfen in das heiße Schmalz gab. Die Kinder sprangen munter in der Küche umher. Jetzt erzählte das Männlein, dass dieses ein Bergspiegel sei, den er jedes Jahr im Sommer mithatte. So sei er zu seinem Reichtum gekommen. Reichbeschenkt kehrte der Sandrieser in die Heimat zurück. Wie erstaunt war aber auch die Bäuerin, als er erzählte, dass er ihr von Venedig aus beim Krapfenbacken zugesehen hätte.Quelle: Zentralarchiv der deutschen Volkserzählung, Marburg, ZA 183 018; Aufzeichner: Hugo Loquenz, Erzähler: Puchreiter, Ort: Katschtal, 1955, zit. nach Sagen aus Kärnten, Hrsg. Leander Petzoldt, München 1993, S. 154 - 155.