Spätes Wiederfinden

Unter den Knappen des Bergwerkes, das vor vielen Jahren dort bestand, wo heute St. Paul steht, ging die Sage, dass ein verfallener Schacht reiches Gut berge, das zu heben jedoch nicht ratsam wäre, da es an jenem Orte nicht geheuer sei. Da taten sich vier Bergleute zusammen, um das Wagnis zu bestehen und die verborgenen Schätze zu heben. Richtig gingen sie ans Werk, drangen durch den Schacht, stießen auf erzreiches Gestein - doch statt der erhofften Reichtümer fanden sie nichts als die frische weiße Leiche eines blühendschönen Jünglings. Erschüttert trugen sie den seltsamen Fund dem Dorfe zu, dessen Bewohner dem Zug mit Angst entgegensahen. Bald war alt und jung beisammen, lauschte der Erzählung der Knappen und beschaute die Leiche, die so jung und frisch wie schlafend in der säubern Bergmannstracht dalag, und die keiner kannte. So ruhte der Tote unter der Linde, und die Schar der Neugierigen wogte um den stillen Fremdling hin und wider. Da nahte als der letzten eine ein greises Weiblein, dem die Last der Jahre den Nacken gebeugt und die Zeit tausend Furchen ins Antlitz gezeichnet hatte. Als sie nahte, öffnete sich der Kreis, und man gab der Greisin Raum, damit sie den toten Bergmann schaue und vielleicht erkenne.

Nur einen Blick warf sie auf die lebensfrische Leiche, und schon flammte das erloschene Auge auf. Mit dem lauten Rufe: »Wilhelm, mein Wilhelm, da bist du«, kniete sie neben dem Toten, überhäufte ihn mit süßen Schmeichelnamen, strich kosend über das Tuch, das er um den Hals geschlungen hatte, und betastete den Ring, der an seinem Finger stak. »Du bist es«, rief sie jubelnd aus, »sie logen, die mir sagten, du lägest tot im Schacht; - nun komm, das Hochzeitsmahl ist bereit, und die Gäste sind schon ungeduldig. - O Wilhelm, wie werden wir glücklich sein!« - So rief sie noch - dann schwankte die schwache Gestalt - und mit seligem Lächeln sank sie tot neben den toten Bräutigam. Die Schmerzenslast eines halben Jahrhunderts hatte das treue Herz getragen, - von der Freude eines Augenblicks war es gebrochen! –

Tief ergriffen stand die Menge, da erhob ein Greis seine Stimme und begann:

»Wie die Zeit uns doch das Gedächtnis schwächt, und wie die Erinnerung der Jugend dahinfliesst! Ich erkannte den nicht, der da vor uns liegt, und doch war er vor fünfzig Jahren mein Freund. Es war Wilhelm, des Hutmanns Sohn, der Stolz und die Zierde der Knappen, ein schöner Junge, wie ihr's jetzt noch seht. Die Tochter des Wirts, die hübsche Klara war seine Braut und der Hochzeitstag nahe. Am Tage vor der Trauung sollte Wilhelm zum letztenmal einfahren; da ergriff Klara ein seltsames Bangen, und sie verschwendete manch' zärtliches Wort, um den Geliebten von dieser Grubenfahrt abzuhalten. Der aber spottete freundlich über die zaghafte Bergmannsbraut, ließ sich nicht abhalten und wollte die gewohnte Pflicht tun wie sonst.

Im Hochzeitshause hatten sich die Gäste versammelt, trotzdem ein Unwetter heranzog, und die fröhliche Musik verstummte nicht früher, als bis ein Brausen und Zittern durch die Luft ging, als erbebe die Erde. Bald darauf brachte ein schreckensbleicher Bote die Unglückskunde: >Der Stollen, wo Wilhelm gearbeitet, ein altes Gebäu, ist zusammengestürzte Jammer und Wehklagen trat an die Stelle des Jubels! Man eilte zur Unglücksstätte, man grub, man tat, was möglich, den Verschütteten zu retten - es war vergebens.

Klara aber harrte in glücklichem Wahne des Geliebten; am Abend eines jeden Tages, den sie ihn vergebens erhofft, tröstete sie sich mit dem nächsten Morgen, der ihr wohl den Verlorenen bringen werde.

Fünfzig Jahre hatte sie so gehofft und geharrt und nun den Geliebten dennoch wiedergesehen!«

Am dritten Tag erscholl feierliches Geläute, und einem langen Zuge voran schwankten zwei Särge, der eine von Knappen, der andere von Jungfrauen getragen. Am Friedhof senkte man sie in ein weites Grab, den jungen, schönen Bräutigam und die greise Braut; der Priester segnete sie ein, wenn auch nicht für langes Leben, so doch für langen Schlaf.

Quelle: J.Rappold, Sagen aus Kärnten, Graz 1887, S. 205 - 208, zit. nach Sagen aus Kärnten, Hrsg. Leander Petzoldt, München 1993, S. 145 - 146.