DIE KNAPPENMESSE
In einer Knappenstube auf dem Tauern saßen vor vielen, vielen Jahren mehrere Bergknappen aus Rauris, Döllach und Sagritz beisammen und freuten sich, da es eben Samstag war, auf die Heimkehr zu Weib und Kind. Aber ein furchtbarer Schneesturm machte es ihnen unmöglich, ins Tal zu steigen. Betrübt legten sie sich zur Ruhe und hofften Besseres vom nächsten Tage. Doch als sie am Morgen erwachten, war es seltsam dunkel in ihrer Stube; und als eine Stunde verflossen war, ohne das erwünschte Tageslicht zu bringen, erhoben sich die Knappen voll banger Ahnung von ihren Lagerstätten. Was sie fanden, übertraf ihre schlimmsten Befürchtungen. Der ungeheure Schneefall der verflossenen Nacht hatte die Hütte völlig zugedeckt. Die Eingeschneiten mußten sich in ihr Schicksal ergeben und in der Hütte bleiben, bis sie aus ihrer Gefangenschaft befreit würden. Aber nicht nur gefangen waren sie! Eine andere, viel größere Gefahr trat an sie heran, die des Verhungerns! Ihre Mundvorräte waren, da ja die Woche eben zu Ende ging, äußerst gering. Wenn jene verzehrt, was dann?
Als Tag um Tag verging und sich keine Rettung zeigte, brachte die Not sie auf einen schrecklichen Gedanken. Während einer der Knappen sich in der Küche befand, faßten die übrigen den Plan, ihn zu töten, sein Fleisch zu verzehren und so selbst dem Hungertode zu entgehen. Aber der in der Küche weilende Knappe hatte den Mordplan gehört und sah voll Todesangst nach einem Plätzchen aus, das ihn vor den Augen der Kameraden verbärge. Da fiel sein Blick auf den Kamin; dahinein konnte er sich verkriechen. Als die Knappen in die Küche kamen, sahen sie sich vergebens nach ihrem Opfer um. Aber frische Schneespuren am Herde verrieten ihnen die Zuflucht des Vermißten. Einer von ihnen kletterte in den Kamin hinauf und sah den sternenhellen, klaren Himmel. Er klomm weiter und entdeckte auf der glänzenden Schneefläche frische Fußspuren. Nun wußte er, wo der Gesuchte Rettung gefunden hatte - aber auch, wo für sie ein Ausweg war. Sie verließen nun alle die Hütte auf diesem Wege und es gelang ihnen, auf der mit einer Eisdecke überzogenen Schneemasse vorwärts zu kommen. Auf ihrem ganzen Wege talabwärts konnten sie die Fährte ihres Leidensgenossen verfolgen. Erst jetzt fiel ihnen die Größe des Verbrechens, das sie geplant hatten, schwer aufs Herz. Als sie im Tale ankamen, fanden sie ihren Kameraden wohlbehalten bei den Seinen; unter Tränen baten sie ihn um Vergebung, die ihnen auch zuteil wurde.
Zur Erinnerung an jenes Ereignis sollen diese Knappen eine sogenannte hl. Jahrmesse gestiftet haben, wobei ein Knappe eine Stange in der Hand hielt, die den außergewöhnlichen Schneestand jener Zeit andeutete, und die er während der Wandlung zu Boden senkte.
Franz Pehr, Kärntner Sagen. Klagenfurt 1913, 5. Auflage, Klagenfurt 1960, Nr. 60, S. 124