DIE WEIßE GEMSE
Es war ein reicher Mann, der hatte eine bildschöne Tochter. Ein armer Bursche wollte sie zur Frau, aber sie sagte, nur dann wolle sie ihn heiraten, wenn er goldene Haare und goldene Zähne hätte. Da sprach der Jüngling einen furchtbaren Fluch aus, und die Jungfrau wurde in eine Gemse verwunschen. Auf der weißen Wand in der Eggeralpe wurde sie von Jägern zuweilen gesehen, aber wenn einer sein Gewehr auf sie anlegte, so stand eine weiße Jungfrau vor ihm. Es wagte sich nicht leicht jemand auf die weiße Wand, denn jeden, der die weiße Gemse erblickte, traf ein Unglück.
Im Dorfe unten lebten drei Brüder, die waren tüchtige Jäger. Ein alter Mann erzählte ihnen von der weißen Gemse. Da wandelte einen die Lust an, die Gemse zu sehen, er verstieg sich bis zur weißen Wand und sah in der Ferne die Gemse; aber als er vor Schrecken Reißaus nahm, ging sein Gewehr los und traf ihn in die Brust, daß er tot zu Boden stürzte. Auch sein älterer Bruder soll einmal die Gemse gesehen haben und bald darauf in der Schlucht umgekommen sein. Nun war nur noch der jüngste der drei Brüder im Hause. Seine Braut bat ihn, ja nicht auf die Wand zu gehen; er aber achtete nicht darauf. Es war sein besonderer Wunsch, die weiße Gemse zu sehen. Immer höher und höher stieg er im Gewände hinauf bis zu einer Stelle, wo er nicht weiter konnte; er sah die Gemse, aber ehe er seine Büchse ergreifen konnte, stürzte er rücklings in den Abgrund hinab. Seine Braut fand den Jägerhut und die Büchse und nicht weit davon den blutigen Leichnam ihres Bräutigams unter der weißen Wand. Die weiße Gemse hat sich seit dieser Zeit nicht mehr sehen lassen.
Franz Pehr, Kärntner Sagen. Klagenfurt 1913, 5. Auflage, Klagenfurt 1960, Nr. 67, S. 139