DIE DONAUSAGE VOM "GRAUEN MÄNNLEIN"

Auf einem mächtigen Felsblock, der Hausstein genannt, hart an dem Wirbel der Donau, ist die Ruine der Veste "Werfel" zu schauen, deren westlichen Teil ein Turm, der "Teufelsturm", bildet. In alter Zeit, als die Veste Werfel noch ein Raubnest war, befand sich an diesem Turm eine gewaltige eiserne Kette, welche quer über den Strom gezogen und am jenseitigen Ufer an einem anderen Turme, dem "Langenstein", befestigt werden konnte. Dadurch war der Strom für die Schiffe gesperrt und den hab- und blutgierigen Bewohnern des Schlosses die leichte Gelegenheit geschafft, die ihnen verfallenen Opfer zu ergreifen, zu plündern und sie dann in dem Pein- und Teufelsturme schmachten zu lassen, bis sie durch ein schweres Lösegeld wieder ihre Freiheit erkauft hatten oder darin umkamen. Lange Zeit wollte man hier um Mitternacht, wenn der Sturm die Wogen peitscht, das Wehgeheul der unschuldig Verkommenen hören, deren Geister dort — wie die Sage erzählt — auf Erlösung harrten. Eines dieser Gespenster, welches lange diesen Turm bewohnt haben soll, zeigte sich öfters den Schiffern, wenn besondere Gefahr drohte, gleich einem warnenden Boten der Vorsehung und war unter dem Namen "das graue Männlein" bekannt. Urplötzlich saß es beim Steuerruder oder fuhr in einem Kahne, den düstere Gestalten ruderten, an dem Schiffe vorbei. Ein besonders hervorragendes Erscheinen dieses Gespenstes als Warnungsbote war folgendes: Kaiser Maximilian hatte seine Regierungsgeschäfte auf dem deutschen Reichstage beendet und sich zur Reise nach Wien vorbereitet, die er auf der Donau zu vollführen gedachte. Das Kaiserschiff fuhr in das romantische Gebirgstal bei Grein ein. Langsam steuerte das Fahrzeug dem Engpasse zu, welchen am linken Ufer hinter Grein mächtige Felsenmassen bilden, noch eine Biegung und eine der zauberhaftesten Stromgegenden Europas entrollt sich hier dem staunenden Blicke. Mit dem feierlichen Momente der Natur, bei dem bereits deutlich vernehmbaren Brausen des Strudels, sahen plötzlich die Ruderknechte unter einem vorspringendem Felsstücke am Ufer den Kahn des gefürchteten grauen Männleins und dieses aufrecht darin stehend, ihnen lebhaft zum Zurückbleiben winkend. Entsetzen malte sich auf allen Gesichtern, denn jetzt war zuversichtlich ein Unglück zu erwarten. Der Kaiser war in seiner Kajüte, als plötzlich der Steuermann, des Schiffes Führer, dringend den Eintritt zu dem Kaiser begehrte. Er meldete nun dem Monarchen mit bekümmerter Miene, daß sich das Gespenst als Vorbote eines bevorstehenden Unglückes gezeigt habe und daß der kaiserliche Herr, da es an dieser Stelle leicht möglich ist, zu landen, ans Land zu steigen und in dem Schlosse Werfenstein zu übernachten geruhen möge. Aber da hatte man sich an den unrechten Mann gewendet. Kaiser Maximilian, der mit festem Sinne zugleich ein unerschütterliches Gottvertrauen in seiner Seele verwahrte, sprach: "Wir stehen in Gottes Hand, haben daher nichts zu befürchten, fahret fort!" Doch eben als der Steuermann aus der Kajüte des unerschrockenen Monarchen trat, zeigte sich das Gespenst neuerdings, den Schiffern warnend zuwinkend. Neuerdings stürzte er nun zu dem Kaiser und bat auf den Knien, der Warnung zu folgen und anlanden zu dürfen. Nun ließ Maximilian zufahren und stieg ans Land, um in der neuen Burg Werfenstein zu übernachten. Dort angelangt, wurde der allgemein geliebte Monarch von seinem treuen Vasallen, dem Grafen Hardeck empfangen. Es wurde bei Wein und Musik spät in die Nacht hinein getafelt. Als die Turmuhr die elfte Stunde verkündete, da öffnete sich langsam und leise des Saales Flügeltüre und herein trat das gespenstige Männlein mit dem Leichengesichte, einen Efeukranz auf dem fast kahlen Haupte. Niemanden, als dem Kaiser allein sichtbar, winkte das Gespenst demselben, ihm zu folgen und als beide aus dem Saal getreten waren und das Männlein die Türe zugeworfen hatte, drang auch schon von Innen ein gewaltiges Poltern und Krachen und ein entsetzliches Weh- und Jammergeschrei hervor. Die Decke des Saales war eingestürzt, wodurch mehrere der Anwesenden getötet, andere mehr oder weniger verwundet wurden.


Kommentar: (Wenedikt, Geschichte Wiens.)
Quelle: Carl Calliano, Niederösterreichischer Sagenschatz, Wien 1924, Band II, S. 36