Das Galgenkreuz bei Ennsdorf

Im Ennswinkel an der Bundesstraße zwischen Ennsdorf und Rems, dort wo ein Feldweg in die nach St. Valentin führende Straße einbiegt, steht eine uralte, knorrige Linde. Ihr mächtiger Stamm ist rissig und grau, ähnlich dem einer Eiche, die Krone sturmzerzaust. Unter der Linde befindet sich ein hohes, säulenartiges Marterl aus Mauthausner Granit. Sein Sockel ist bemoost, die Zeichen oder Bilder, die es einmal trug, sind nicht mehr vorhanden. Nur bloß ein schmiedeeisernes Kreuz ziert es noch. In der Bauart ähnelt es einigermaßen den bekannten Pestsäulen, doch der Volksmund nennt es hartnäckig das Galgenkreuz und die Linde, die sich darüberwölbt, den Galgenbaum. Zuweilen hört man auch die Bezeichnung "Graselkreuz", wohl unter Anspielung auf den berüchtigten WaldviertIer Bandenführer. Die alten Weiblein, die ansonsten jedes Bildstöckel gerne mit Blumen und Kränzen schmücken, unterlassen dies zumeist an dieser Stätte. Man meidet diesen Ort. Denn dort, so erzählt man sich, wurde einst ein weit und breit gefürchteter Räuberhauptmann gehängt. Ja, man weiß sogar, daß er das Wald- und Mühlviertel unsicher gemacht und zum Teil auch noch am rechten Donauufer sein Unwesen getrieben hat. Nach seiner Gefangennahme vorerst nach Freistadt gebracht, sei er sodann unter starker Bewachung in das Schloß Enns überstellt worden. Zum Tode verurteilt, trieb man ihn in aller Heimlichkeit über die Ennsbrücke auf Mostviertler Boden zur besagten Linde, wo er durch den Strick hingerichtet wurde. Das bevorstehende Halsgericht hatte sich aber trotz der Geheimhaltung mit Windeseile herumgesprochen, und so waren nicht nur die Einheimischen zahlreich herbeigeströmt, sondern auch viel zigeunerhaft anmutendes Gelichter, das für den gefaßten Raubgesellen ganz unverblümt sein Wohlgefallen bekundete. Der Räuber soll nämlich nicht nur eine weitverzweigte Sippe und Anhängerschaft besessen, sondern auch die Gepflogenheit gehabt haben, seine den Reichen abgenommene Beute mit armen, herumziehenden Leuten zu teilen. Und diese Armen sollen es dann auch gewesen sein, die ihm an der Stätte seiner Hinrichtung dieses ansehnliche Denkmal gesetzt haben. Viele Jahrzehnte haben daran genagt und jedes Schriftzeichen verwischt, nur der Volksmund weiß darum noch Bescheid. (Wallner.)

Anmerkung des Herausgebers: In der dem Ennswinkel gegenüberliegenden Gegend des unteren Mühlviertels leben noch die Namen mancher Räuber im Volksmunde fort, z. B. der Pohneder Hans, der Höritzer Wirt, der Steinhauer Gröger, der Landl Michl u. a. - Der Räuberhauptmann Johann Georg Grasel machte um das Jahr 1814 mit einer großen Bande das Wald- und Mühlviertel unsicher. Das Schatzenhaus in Aist war eines seiner vielen Verstecke. Grasel wurde in den Morgenstunden des 19. Novembers 1815 in einer Schenke zu Mörtelsdorf bei Horn festgenommen und in Wien hingerichtet. Eine Reihe von damals gedruckten Volksbücheln, die im Wald-, Mühl- und Mostviertel verbreitet waren, verherrlichte Grasel als den Bestrafer hartherziger Reicher und Helfer der Armen. F. A.

Quelle: Sagen aus dem Mostviertel, gesammelt von der Lehrerarbeitsgemeinschaft des Bezirkes Amstetten, Hrsg. Ferdinand Adl, Amstetten 1952, S. 71
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Norbert Steinwendner, Mai 2006.
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