Beim Wolfgangbrunnen zu Kanning

Auch diese Sage hat der Findt-Vater von Kanning noch im Gedächtnis: Als der heilige Wolfgang im 10. Jahrhundert predigend durch unser Land zog, kam er auch in die Gegend des heutigen Örtleins Kanning. Der Weg führte ihn entlang der Erla durch dichten Auwald. Da sprudelte plötzlich eine reine Quelle aus dem Boden. Das kristallklare Wasser und die weichen Moospolster luden den Heiligen zur Rast ein. Da ihm das liebliche Plätzchen außerordentlich gut gefiel, beschloß er, in der Nähe ein Kirchlein zu erbauen. Bald war ein Stückchen Wald gerodet und eine kleine Kapelle aus Baumstämmen zusammengefügt. Später wurde die Kirche aus Stein gebaut, und ringsherum soll auch ein Friedhof angelegt worden sein, von dem allerdings keine Spuren mehr vorhanden sind. Im dichten Ennswalde hausten damals viele Wölfe, die nachts in den Friedhof eindrangen und die Leichen ausscharrten. Man war deshalb gezwungen, eine hohe Mauer zu errichten und beim Eingang ein Fallgitter anzubringen, um dadurch die eingedrungenen Raubtiere zu fangen.

Große Sorgfalt widmete der heilige Wolfgang seiner Lieblingsquelle. Sie erhielt eine Fassung aus Stein, und darüber wurde später ein gemauerter Bildstock errichtet. Tausende pilgerten im Laufe der Zeiten zum Wolfgangbrunnen, um von ihren Augenleiden befreit zu werden, denn große Heilkraft schrieb man diesem Wasser zu.

Jahrhunderte vergingen, und allmählich wurde es stiller um die Quelle in Kanning. Als im Jahre 1943 im Tale der Erla Sprengungen zur Suche nach Erdöl vorgenommen wurden, versiegte das Wasser, das in letzter Zeit ohnehin schon sehr spärlich geflossen war, gänzlich, und das sagenumwobene Wolfgangbründl steht jetzt vertrocknet und verlassen in der Wiese, blickt hinüber zur turmlosen Kirche von Kanning und träumt von vergangenen Tagen. (Burger.)

Quelle: Sagen aus dem Mostviertel, gesammelt von der Lehrerarbeitsgemeinschaft des Bezirkes Amstetten, Hrsg. Ferdinand Adl, Amstetten 1952, S. 102
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Norbert Steinwendner, Mai 2006.
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