DER WUNDERMÄCHTIGE GEIGER
Es war einmal ein arger Verbrecher, der so zauberhaft schön geigen konnte, daß alle, die ihn hörten, zu tanzen anfingen, sie mochten wollen oder nicht. Als ihn der Arm der Gerechtigkeit erreichte und auf den Richtplatz geführt hatte, bat der arme Sünder scheinbar ergeben um die letzte Gnade, man möge ihm seine geliebte Geige reichen und ihn ein letztes Stücklein spielen lassen. Da schrie ein altes Weib aus der Zuschauermenge wiederholt: "Gebt sie ihm nicht! Um Gottes willen, gebt ihm die Geige nicht!" Man achtete jedoch der erfahrenen Warnerin nicht und gewährte den letzten Wunsch des Verurteilten. Aber kaum hatte dieser sein herrliches Spiel begonnen, so wurden Richter, Büttel, Henker und Zuschauer von einem sinnverwirrenden Zauber erfaßt und hoben einen tollen Massenreigen an, während dessen der kunstreiche Bösewicht fiedelnd entwischte.
Kommentar: (Leeb, Niederösterreichische Sagen,
St. Veit a. d. Gölsen.)
Quelle: Carl Calliano, Niederösterreichischer Sagenschatz, Wien 1924,
Band II, S. 51