DER SCHEINTOTE UND DER TOTENGRÄBER

Vor langer Zeit, als die Stadt Eggenburg noch wenige Häuser außerhalb der Stadtmauern besaß, trug sich eine unerhörte Begebenheit zu. Einer der jungen, reichen Bürger, der am Grätzl wohnte - das ist eine Gruppe von Häusern in der Mitte des Stadtplatzes - wollte sich vermählen. Ohne dass er sich bewusst war Neider zu haben, wurde er völlig unerwartet vom Sohn eines Nachbarn, der auch im Grätzl wohnte, erschlagen. Der Mörder wurde sofort gefangen genommen und dem Gericht übergeben. Der erschlagene Bräutigam wurde sodann unter großer Beteiligung der Eggenburger Bevölkerung zu Grabe getragen. Den ihm liebgewordenen Verlobungsring ließ man dem Verstorbenen, als man ihn in den Sarg legte.

Der Totengräber aber hatte davon erfahren und fasste den unseligen Beschluss, dem Toten seinen Ring zu rauben. Noch in der Nacht nach dem Begräbnis schlich er auf den Friedhof, um dem Verstorbenen den Ring vom Finger zu ziehen. Als ihm dies aber nicht gelang, schnitt er mit seinem Messer kurzerhand den Ringfinger des Verstorbenen ab. Davon erwachte der Tote, der nur scheintot gewesen war. Entsetzt floh der Totengräber. Indes trat die Tochter des Grabräubers, die ihrem Vater heimlich gefolgt war, hinter einem Grabstein hervor und half dem wieder erwachten Scheintoten aus dem Grab und begleitete ihn nach Hause.

Nachdem der wieder Erwachte beim Stadtrichter um Gnade für seinen vermeintlichen Mörder und für den Totengräber gebeten hatte, erließ man beiden die Strafe. Sie wurden aber aus der Stadt verbannt und mussten das Weite suchen.

Quelle: Das Weinviertel in seinen Sagen, Thomas Hofmann, Weitra 2000, S. 43