DER BETRÜGERISCHE MÜLLER
Ein reicher Müller im Thayatal gestand bei der Beichte, dass er es nicht lassen konnte, sich statt eines ihm zustehenden Massels Mehl, stets zwei zu nehmen. Der Beichtvater wollte ihm helfen und riet ihm, in der Mahlstube, wo er das Mehl abfüllte, das Bild eines Heiligen aufzuhängen. Der Heilige sollte ihn beim Abfüllen immer beobachten und ihn mahnen, stets nur ein Massel Mehl und nicht ein zweites für den eigenen Bedarf abzufüllen.
Der Müller war über den Rat sehr froh und gehorchte dem Kirchenmann. Und siehe da, es half wirklich. Der Müller nahm sich von nun an nur mehr so viel Mehl, wie ihm zustand. Dies führte aber dazu, dass er nur mehr halb soviel Mehl wie früher hatte und bald begann er merklich ärmer zu werden. Der anfängliche Wohlstand begann zunehmend zu schwinden. So entschloss er sich ohne lange zu überlegen, das Bild des Heiligen wieder zu entfernen. Und er nahm sich völlig ohne Gewissensbisse wieder zwei Massel Mehl wie in alten Zeiten.
Bei der nächsten Beichte erfuhr der Beichtvater aber von der Sache
und er sparte keineswegs mit Vorwürfen, um den Müller zurechtzuweisen.
Eindringlich mahnte er ihn, das Heiligenbild wieder aufzuhängen,
doch der Müller antwortete achselzuckend: "Einer von uns beiden
muss aus der Mühle; entweder der Heilige oder ich!"
Quelle: Das Weinviertel in seinen Sagen, Thomas Hofmann, Weitra 2000, S. 14