DER STEINTRÄGER
Die heutige Burg Kreuzenstein, die als Idealbild einer Ritterburg stolz zur Donau hinunterblickt, hatte nie Ritter zu Gesicht bekommen. Das Bauwerk stammt aus dem späten 19. Jahrhundert, vorher stand an ihrer Stelle lange Zeit eine Ruine. Die alte Burg Kreuzenstein war im 17. Jahrhundert von den Schweden zerstört worden und wurde seither von den Bauern der umliegenden Orte als guter und billiger Steinbruch genutzt. Wollte einer ein Haus bauen und brauchte dafür auch größere Steine fürs Fundament, so fuhr er meist mit dem Wagen zur Ruine und bediente sich dort. Auf diese Weise wurde die Burg im wahrsten Sinn des Wortes, zuerst ab- und dann davongetragen.
Burg Kreuzenstein, Leobendorf;
Niederösterreich
© Harald Hartmann, Herbst 2004
Im Laufe der Zeit hatten die Steinräuber schon die ganze Burg abgetragen und sich bis zur Kapelle vorgearbeitet, die damals dem Hl. Nikolaus geweiht war. Doch das Gotteshaus verschonten sie, es war ihnen heilig. Eines Tages jedoch wollte ein Mann just den schönen großen Altarstein für sich haben. Und so ging er daran, den Gesteinsblock mit schwerem Werkzeug von seinem Fundament zu lösen. Just in diesem Augenblick fiel ein Stein vom lockeren Mauerwerk auf ihn herab und traf ihn so schwer am Kopf, dass er auf der Stelle starb.
Zur Strafe für den Gottesfrevel konnte seine Seele aber keine Ruhe finden. Nacht für Nacht musste er Steine schleppen. Unendlich lange wartete er auf das erlösende Wort, das ihm keiner schenken wollte, weil all die Bauern der Umgebung Angst vor der nächtlichen Spukgestalt hatten.
Doch eines Tages kam ein nichtsahnender Fremder in die Gegend und hörte
in der Nacht das Ächzen und Stöhnen des Steinträgers. Verwundert
blickte er in Richtung der Burgruine Kreuzenstein, wo er einen dunklen
Schatten in Menschengestalt mit schwerer Last den Berg hinauf keuchen
sah. "Lasst die Last doch fallen, wenn sie Euch zu schwer ist!",
rief er in der Spukgestalt zu. Er hörte dann nur mehr ein dumpfes
Poltern und einen Freudenschrei. Es war der Steinträger, dem die
Last des Steines vom Herzen gefallen war, und der nun die ersehnte Grabesruhe
finden konnte.
Quelle: Das Weinviertel in seinen Sagen, Thomas Hofmann, Weitra 2000, S. 138