DIE STOLZE FÖHRE
Mitten im Marchfeld steht in Straßhof hart an der Gemeindegrenze zu Bockfließ seit alters her eine große Föhre mit einer breiten Krone und weit ausladenden Ästen. Allerorten heißt sie nur die "Stolze Föhre". Der Markt Straßhof trägt sie sogar in seinem Wappen. Napoleon soll hier einst die Schlachtpläne entworfen haben. Selbst die große Kaiserin Maria Theresia wurde hier von Leuten aus Markgrafneusiedl bewirtet, so erzählt man.
In alten Zeiten lebte in den Ästen des Baumes eine gute Fee. Tagsüber saß sie in Gestalt einer Bettlerin unter dem Baum und beobachtete die Vorübergehenden. So machte sie sich ein Bild von der Gesinnung der Leute. Auch ein reicher Bauer ging mit seiner Magd täglich am Baum mit der Bettlerin vorbei. Ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen, schritt er an ihr vorbei. Seine Magd aber, die selber sehr arm war, gab der Bettlerin jeweils die Hälfte ihres Jausenbrotes. Als dies der Bauer einmal merkte, war er derart erzürnt, dass er ihr von nun an kein Brot mehr gab. Der Magd tat dies sehr Leid, sie war traurig, dass sie der Bettlerin kein Brot mehr geben konnte. So versuchte sie ihr wenigstens ein paar freundliche, aufmunternde Blicke zuzuwerfen.
Eines Tages war der reiche Bauer zu einer Hochzeit im Nachbarort eingeladen. Dort wurde bis zur mitternächtlichen Stunde gefeiert. Als er am Heimweg an der "Stolzen Föhre" vorüberging, erblickte er jedoch an Stelle des Baumes einen prächtigen Palast, in dem eine Fee und Zwerge ein rauschendes Fest feierten. Ohne lange zu zögern, trat der erstaunte Bauer ein und feierte mit der frohen Zwergenschar und der schönen Fee. Als er dann beim Morgengrauen fortging, griff er noch eifrig zu und stopfte seine Taschen voll mit den köstlichsten Speisen.
Zu Hause angekommen prahlte er vor den Seinen und griff in seine prall gefüllten Taschen. Da merkte er, dass sich seine Mitbringsel in stinkende Kuhfladen verwandelt hatten. Voll Zorn warf der bloß gestellte Bauer die Kuhfladen seiner Magd vor die Füße und sagte höhnisch: "Hier hast du Brot für deine Bettlerin!"
Als die Magd nun hinaus ging, um ihre Schürze zu reinigen, fand
sie darin lauter funkelnde Dukaten. Erfreut rannte sie zur "Stolzen
Föhre", um ihren Schatz mit der Bettlerin zu teilen. Dort fand
sie aber an deren Stelle nun einen prächtigen Palast mit einer schönen
Fee. Gerührt von der Ehrlichkeit der Magd schenkte ihr die Fee eine
Menge Geld und schöne, neue Kleider. Und bald darauf wurde die ehemalige
Magd die glückliche Frau eines Prinzen.
Quelle: Das Weinviertel in seinen Sagen, Thomas Hofmann, Weitra 2000, S. 252