DAS BLUTKREUZ AM URTEILSTEIN
Urteilstein © Harald Hartmann

Urteilstein im Wienerwald
©Harald Hartmann, April 2005

Die Klosterherren, welche in alter Zeit auf der Burg Scharfeneck im Helenentale ihren Sitz hatten, wurden angedichteter Verbrechen halber, unschuldig angeklagt, gemartert und schließlich heimlich in einer mondlosen Nacht am Urteilsteine hingerichtet. Und als man gar den Klosterherren nicht einmal ein Grab gab, sondern ihre Leichen von dem Urteilsteine in die Schwechat warf, da geschah ein Wunder. Die Leichen der alten Klosterherren, die vielleicht nicht ganz unschuldig, trugen die Wellen des Flusses sofort weg, aber die Leiche des "jüngsten" der Klosterherren, der gewiß ganz unschuldig gewesen, versank weiß wie sein Kleid mit dem roten Kreuze, in dem Wasser des Urteilsteines in unergründbarer Tiefe. Wenn aber jemals im Laufe der langen Jahre ein unglückliches Liebespaar, verzagend auf göttliche oder menschliche Hilfe, mit unheimlichen Absichten den verrufenen und viel verfluchten Urteilstein erstiegen und dort verzweifelnd, bis Sonnenuntergang, von dem zerklüfteten Felsen zu der drohenden und lockenden Tiefe des Wassers blickte, da tauchte in der schwarzen Flut glühend das blutrote Kreuz, das der jüngste der Klosterherren getragen und eine warnende Hand empor und scheuchte immer die Menschen vor einer Tat, die auch ihnen das ehrliche Begräbnis verweigern würde. Seit dieser Zeit wuchs an der Seite des Felsens, wo man die Leichen in den Fluß warf, fortan die deutsche Schwertlilie und der Urteilstein ist noch heute der einzige Standort in der ganzen Umgebung, wo man die Iris germanica noch wild wachsend vorfindet.

Quelle: Carl Calliano, Niederösterreichischer Sagenschatz, Wien 1924, Band I, S. 23