DER "HALTER-LIPP"
(Neulengbach)

Der "Halter-Lipp" ist eine jener Gestalten, welche im Munde des abergläubischen Volkes Jahrzehnte noch fortleben, wenn das Andenken an manch andere Männer, die in der Gemeinde bedeutendes leisten, schon längst erloschen ist. Frage nach diesem oder jenem würdigen Seelenhirten, nach jenem tüchtigen Lehrer, nach einem für das Gemeindewohl so besorgten Bürgermeister, vor 20, 30 oder 40 Jahren - ach, sie sind vergessen, und nur die halbverblichenen Goldbuchstaben ihrer Grabmonumente blitzen noch hie und da auf, und ein Mütterchen gedenkt ihrer im stillen Gebete. Forschest du aber in unserer Gegend nach dem "Halter-Lipp" so streiten sich alle Ortschaften von "dan bis berseba", will sagen vom Buchberge bis in die Laaben, um seinen einstmaligen Aufenthalt. Die alten Ulmen von Habersdorf flüstern sich schaurige Geschichten von dem "Halter-Lipp" zu und der Laabnerbach bei Altlengbach und Christophen gedenkt der Zeiten, in welchem der genannte in seinen Gestaden "neuerlei" Holz zu seinen Zwecken sammelte.

Der Großvater erzählt heute noch seinem staunenden Sohne, seinen verblüfft dreinschauenden Enkeln von dem "Halter-Lipp", wie er damals die scheckige Mauerkuh, die nachts losgeworden und sich ein Bein brach, curirte.

Er nahm den Melkstuhl, band denselben unter gewissen Zeichen und Gebetem das entsprechende Bein ein, und die Kuh gesundete. Die Großmutter bestätigt dies, und fügt noch hinzu, dass, als die Ringelhoferin - Gott habe sie selig - noch eine Dirn war, und am "hintaußigen" Acker Mist bereitete, der "Halter-Lipp" ihr zu gefallen die Schafe herauftrieb.

Es war schon am späten Nachmittag, die Dirne trachtete fertig zu werden und nahm sich keine Zeit, mit dem "Halter-Lipp" zu scherzen. Der aber machte einen "Kreuzschnalzer" mit seiner langen Peitsche, die Düngerhaufen zerstoben und der Mist lag ausgebreitet auf dem Acker. Wenn der Stier wild wurde und wie der Sturmwind durch die Au dem Dorfe zuraste, genügte ein kunstgerechter "Kreuzschnalzer" des "Halter-Lipp" und das tolle Vieh kehrte um, fromm wie ein Lamm, demütig den Kopf hängend lassend wie ein träumendes comfortable-Roß. Wer den "Halter-Lipp" erzürnte, wer über seine geheimen Künste spottete, musste dann den "Halter-Lipp" aufsuchen, ihn durch Geld und Esswaren versöhnen, worauf er das Vieh wieder heilte.


Täglich stellte er seine Schüssel voll Milch mitten auf den Boden der Hütte und von allen Seiten kamen "Heppinen" (Kröten) herbei, tranken die Milch aus und ver-schwanden dann ebenso wie sie gekommen. Auch über die Elemente besaß der "Halter-Lipp" eine gewisse Macht. Als einstmals ein äußerst trockener Sommer Wiesen und Felder an den Rand des Verderbens brachte und selbst Prozessionen und Bittgänge nichts fruchteten, da wandten sich die maßgebenden Persönlichkeiten an den "Halter-Lipp".

Dieser breitete den Rock in seiner Hütte aus, legte sich drauf und siehe da - der Regen floß in Strömen nieder und dauerte ununterbrochen fort, solange nämlich der "Halter-Lipp" schlief. So ward der Segen zum Fluch und wie die lange Trockenheit, so schadete jetzt die große Nässe. Nach acht Tagen erwachte endlich der "Lipp". Als ihm die Leute über das schlechte Wetter, das er gebracht haben sollte, Vorwürfe machten, erwiderte er, mit den Augen zwinkernd:"Warum habt ihr mich nicht geweckt? Ganz hätte ich den Regen wohl nicht stillen, aber so viel bewirken können, dass er nicht geschadet hätte!"


Quelle: Neulengbacher Zeitung Nr. 37 vom 14. September 1901, Der "Halter-Lipp" von Franz Hüll
email-Zusendung 21.11.2001 von Günter Ofner