DER LETZTE HERULERKÖNIG

Ums Jahr 500 nach der Geburt des Heilandes schloß Rodulf, König der Hegelingen (Harlungen, Heruler), mit dem longobardischen Könige Tato ein Freundschaftsbündnis und hatte deshalb seinen eigenen Bruder an den alten Tato als Gesandten geschickt, welcher sein Geschäft nach Wunsch zustande brachte. Als dieser wieder heimkehren wollte, ging sein Zug am Palaste Rumetruds, Tatos königlicher Tochter vorüber, welche forschte, wer jener wäre, den ein so prächtiges Gefolge umgebe. Und als man ihr antwortete, es sei des Herulerkönigs Rodulf Bruder, der sich nach gepflogener Unterhandlung auf die Heimreise begebe, schickte sie einen aus ihrem Gefolge hin an den fremden Fürsten mit Gruß und der Einladung, ihr die Ehre zu gewähren, einen Becher aus ihrer Hand zu empfangen. Solches Anerbieten ward angenommen und der königliche Botschafter begab sich ungesäumt in ihren Palast. Als er aber vor sie hintrat, schien er Rumetruden der Achtung nicht wert, denn er war äußerst klein und zart gebaut. In zügelloser Laune verhöhnte sie ihren Gast und gab ihn mit beißenden Stachelreden dem Spott und Gelächter ihres Gefolges preis. Diese Erniedrigung, diese unerwartete Schmach erbitterte ihn so heftig, daß er den Hohn behende mit solcher Widerrede vergalt, welche ihr die rote Glut ins Gesicht trieb und sie so verwirrte, daß sie vor Scham nicht wußte, wohin sie blicken sollte und kein Auge aufzuschlagen wagte. Ins innerste verletzt, sann sie auf nichts als Rache und Meuchelmord; denn ihr Herz schwoll von Rachedurst und teuflischer Bosheit. Doch wollte sie nicht nach deutscher Art frei und offen ihre Sache führen, sondern mit geheuchelter Freundschaft leise, aber sicher ihr Opfer fällen. Dieses Vorhaben unter erzwungene Gebärden verbergend, gab sie ihm schöne Worte und nötigte ihn, einen Sitz anzunehmen. Sie hatte ihn so gesetzt, daß er ein Fenster im Rücken hatte, welches sie mit einem köstlichen Teppiche verhängen ließ. Dem Anscheine nach, ihm Ehre zu erweisen, in Wahrheit aber ihren mörderischen Anschlag ihm zu verbergen. Hinter dieses Fenster stellte sie ihre Trabanten und erteilte ihnen genaue Weisung. Als sie darauf, während aller Aufmerksamkeit auf das Mahl gerichtet war, zum verabredeten Zeichen dem Schenk zurief: Mische ! durchspießten ihn die Jünglinge mit ihren Lanzen, so daß er zu Tode getroffen hinsank. Sein Gefolge wurde entlassen und brachte die Märe nach Herulia.

Als Rodulf Rumetruds Schlangentücke und seines Bruders blutigen Ausgang erfuhr, seufzte er tief und zur Rache entflammt, brach er zur Stunde das erst geschlossene Bündnis mit den Longobarden und kündigte ihrem Könige Tato den Krieg an. Beide Könige zogen hierauf einander mit Heeresmacht, in offenem Felde unter die Augen.

Rodulf aber traute seiner Macht zu viel, begnügte sich, daß er sein Heer zur Walstatt geführt, und die Schlachtordnung eingerichtet hatte, kehrte dann für seine Person ins Lager zurück und fing daselbst an auf dem Brette zu spielen, als stände auf dem Schlachtfelde nicht mehr als auf dem Spielbrette, als hätte er den Ausschlag des Gefechtes gleich den Würfeln in seiner Hand, als hätte auch das Kriegsglück von ihm Befehl erhalten und müßte ihm zu Willen sein. Die Kriegszucht, Behendigkeit und Tapferkeit der Harlungen stand dazumal in vollem Ruhme und dies verblendete Rodulf und reizte ihn zum frevelhaft übermütigen, blinden Wagnisse. Seiner Krieger Hochmut und Vermessenheit war nicht viel geringer als seine eigene. Ihrer Sitte gemäß zogen sie sich nackend aus, teils um desto behender zu fechten, teils um den Feind erkennen zu lassen, wie wenig sie es achteten, ob ihnen eine handtiefe Wunde geschlagen oder das Fleisch von den Knochen gehackt werde.

Darum bildete Rodulf sich ein, daß er feste, lebendige Mauern, marmorne Siegessäulen und unüberwindliche, unwiderstehliche Riesen zu Felde geführt habe, die ihren Feind lebendig zerstückeln würden. Er befahl einem Nahestehenden auf einen Baum zu steigen, und ihm anzudeuten, wie tapfer seine Hegelingen den Feind träfen und in die Flucht trieben, mit der Drohung, ihm den Kopf abschlagen zu lassen, wenn er ihm die Nachricht brächte, seine Harlungen wollten fliehen! — der Wächter nahm die Drohung wohl in Acht und so oft der König fragte: "He! was machen meine Hegelingen, fechten sie?" antwortete er allemal: ja mein Herr und König. Diese Antwort wiederholte er oft und hatte nicht das Herz, die Wahrheit zu sagen, aus Furcht, das Leben zu verlieren. Wie denn die Wahrheit selten wohl gelitten ist und sich oft Nackenstreiche holt — so blieb er bei seinen Worten, obgleich er sah, daß die Not höher und höher stieg und zuletzt das ganze Heer der Heruler geschlagen, zersprengt in voller Flucht war. Da brach er zu spät in die Worte aus: „Ach, wehe dir armes Herulerland, welches vom erzürnten Herrn des Himmels also gestraft wird!" Über dieses Wort fuhr der König auf und rief: "Wie! fliehen etwa meine Heruler?" „Du hast es gesagt, nicht ich," antwortete der Diener. "Sieh König, dein Heer zersprengt, deine Krieger zerstückt, das Feld verloren!" Da brach Rodulfs verwegener Mut, bestürzt sammelte er seine Leibwache um sich und machte sich bereit, das Kampfesglück zu erproben. Ehe aber die Stimmen einig werden konnten, ob man dem siegreichen Feind entgegenrücken oder die Longobarden im Lager erwarten sollte, brachen die bestahlten, mit Hegelingenblut gefärbten Scharen Tatos ins Lager ein. Der wirre Schwärm der Fliehenden ging ihnen voraus und vermehrte die Unordnung in Rodulfs Haufen, der vergebens mit dem rasendsten Mute focht. Ein Hegeling nach dem ändern fiel unter den Streichen der weitüberlegenen Longobarden, zuletzt auch der König, der seine Schuld so schwer büßte. Der Helm des Gefallenen und seine Leibfahne wurden dem Sieger gebracht.

Nun wünschten die verwegenen Schläger, die sich nackend der Übermacht des wohlgerüsteten longobar-dischen Heeres entgegengestellt hatten, den nachhauenden Schwerten zu entgehen und lösten sich völlig auf. Die Verfolgung währte bis in die Nacht hinein. Die Flüchtlinge gelangten an Flachsfelder, sahen, von Bestürzung und Mondlicht getäuscht, den schimmernden Flachs für Wasser an und warfen sich mit offenen Armen in den vermeinten Fluß. Dies vollendete ihre völlige Niederlage. Die Heruler wurden an den Tage so geschwächt, daß sie seitdem keinen König mehr hatten. Doch hielten sie sich in Österreich, wo die Harlungenburg ihren Namen im Andenken erhielt.


Kommentar: Leopold Ziegelhauser
Quelle: Carl Calliano, Niederösterreichischer Sagenschatz, Wien 1924, Band II, S. 5