DIE TOTENMESSE
Ein braves und frommes Linzer Mädchen versäumte es nie, im Advent die Rorate zu besuchen. Eines Jahres irrte sie sich aber im Tage und ging noch vor Adventsbeginn in die gewohnte Kirche zur gewohnten Frühmesse. Das Gotteshaus war erfüllt von Betern, aber es waren lauter Unbekannte. Viele darunter trugen altertümliche Kleider. Auch der Geistliche am Altar, als Katechet ihr sonst wohl bekannt, war diesmal ein ganz anderer. Das Kind wunderte sich zwar über all diese Seltsamkeiten, betete aber fleißig.
Als die Rorate sich dem Ende näherte, trat eine alte Frau zum Mädchen, das bescheiden im Mittelgange stehen geblieben war, und sagte leise: Du bist in der Messe der Toten, an der kein Lebender teilnehmen darf. Weil du aber ein unschuldiges Kind bist, so darf ich als deine Urahne dich retten. Geh sofort, das Gesicht immer zum Altar gewendet, betend und dich bekreuzigend, rückwärts schreitend aus der Kirche; tust du so, dann wird dir nichts geschehen, ansonsten werden dich die Toten zerreißen. Zitternd folgte das Mädchen dem Rate. Die Totenschädel fletschten freilich wütend die Zähne und die Knochenarme reckten sich drohend; das Kind aber kam glücklich heim.
Quelle: Commenda Hans, Eigene Sammlung. Handschrift.
aus: Hans Commenda, Sagen in und um Linz, in:
Oberösterreichische Heimatblätter, Jahrgang 21, 1967, Heft 3/4,
S. 27 - 74.