Die Rache des Dachsteinkönigs
Dort, wo heute die Dachsteingletscher im Sonnenlichte erglänzen,
lagen vor langer, langer Zeit ausgedehnte Almgründe, auf denen das
Vieh ganz besonders wohlschmeckende und nahrhafte Gräser und Kräuter
zu weiden fand. Kein Wunder, daß die Sennerinnen in den Almhütten
Milch, Butter und Käse in Überfluß hatten, übermütig
wurden und all den Reichtum zu verschwenden begannen.
Mit altgewordenen Käselaiben legten sie ein Pflaster von der größten
Hütte bis zum Brunnentrog hinunter. Die Fugen in der Balkenwand verstopften
sie mit Speckseiten; und mit der köstlichen Butter fetteten sie ihre
Schuhe ein! Die Milch schütteten sie in Bottiche und badeten darin.
Ja, so trieben es diese leichtfertigen Mädchen auf den Dachsteinalmen!
Kam aber ein müder Wanderer oder ein armer Bettelmann daher, dann
verwandelte sich ihre sündhafte Verschwenderei sogleich in schlimmsten
Geiz. Mit groben Schimpfworten jagten sie jeden, der Rast und Stärkung
auf der Alm suchte, von der Tür. Und ging er nicht schnell genug
davon, so wurden ihm die zwei bissigen Hüttenhunde nachgehetzt! Nun
kam eines Tages wieder einmal ein hungriger Gast zu den Sennerinnen hinauf,
ein alter, eisgrauer Mann, dem man die Erschöpfung nach dem weiten,
steilen Aufstieg wohl anmerkte. Er wankte der Hausbank zu und bat bescheiden
um einen Trunk Milch und ein Stück Brot. Aber die mitleidlosen Mägde
kannten kein Erbarmen! Sie schrien ihn an und wiesen ihn mit harten Worten
von der Hütte.
Doch siehe da: vor den entsetzten Blicken der Sennerinnen wuchs der Alte
plötzlich ins Riesenhafte und rief mit donnernder Stimme:
"Dem Dachsteinkönig habt ihr Rast verwehrt -
so sei euch künftig Hab und Gut zerstört!
Der Schnee bedecke euch und Alm und Herden
und nie mehr soll's hier oben aper werden!"
Als des Dachsteinkönigs mächtige Gestalt entschwunden war,
zogen im Nu von allen Seiten dunkle Wolken über den Himmel und es
begann zu schneien - zu schneien schier ohne Ende!
Die nachfolgende Kälte ließ die dicke Schneeschichte erstarren;
und damit war alles Leben unter ewigem Eis begraben.
Nur eines der Mädchen, das in Todesangst beim Beginn des Schneetreibens
aus der Almhütte entflohen war, erreichte das Tal und erzählte
in Gosau von der schrecklichen Rache des Dachsteinkönigs.
An besonders heißen Sommertagen fließt heute noch mittags
ein milchweißer Bach vom Eisfeld hinab über Fels und Gerolle
in die Gosauseen. Dann sagen die Leute: "Bei der Hitz heut baden
s' wieder, die verwünschten Sennerinnen!"
Du fragst, ob sie denn für immer in ihren unterirdischen Kammern
bleiben müssen?
Ja weißt du: im Volk lebt der Glaube, daß sie von des Dachsteinkönigs
Fluch befreit werden könnten! Es müßte nur ein junger
Bursche, der noch nie gelogen hat, mit einem schwarzen Stier, einem schwarzen
Hund und einem schwarzen Hahn den Gletscher besteigen. Und würde
oben der Stier dreimal brüllen, der Hund dreimal bellen und der Hahn
dreimal krähen, dann wären die Sennerinnen erlöst. Aber
ob dies alles je einmal zutreffen wird?
Quelle: Sagenschatz aus dem Salzkammergut, Iolanthe Hasslwander, Steyr 1981