Der Birgstutzen
Hast du schon einmal etwas über die Bergstutzen erzählen gehört?
"Birgstutzen" nennen die steirischen Jäger, Holzknechte
und Sennen das scheue, wieselähnliche Tier, das hoch oben im Felsgeröll
der Berge lebt. Sehr selten bekommt einer dieses flinke, allgemein gefürchtete
Geschöpf zu sehen. Und man soll sich das auch gar nicht wünschen!
Denn das seltsame kleine Untier mag von Menschen nicht gestört werden
und gerät in wilden Zorn, wenn einer sein Revier betritt. Wie der
Sturmwind schnellt es sich heran, springt dem Eindringling an die Kehle
und beißt ihn tot. Findet man nach oft tagelangem Suchen in den
Schutthalden oder zwischen einsamen Felsblöcken einen leblosen Jäger,
Holzarbeiter oder Sennbuben mit einer Bißwunde an der Kehle, dann
wissen alle: den hat ein Birgstutzen umgebracht!
Einmal verfolgte ein kühner Jägersmann im Bereiche des Bergriesen
Grimming eine stattliche Gemse und geriet in seinem Eifer hoch hinauf
in ein ganz unwegsames, steiles Gelände, so daß er endlich
schwer aufatmend kurze Rast hielt. Und als er nun um sich schaute, sah
er plötzlich im Gestein in einer sonnigen Mulde einen schlafenden
Birgstutzen liegen. Erschrocken sagte sich der junge Jäger: "Um
Gotteswillen - wenn der jetzt aufwacht, ist's aus mit mir!"
Eiligst duckte er sich nieder und kroch leise, ganz leise in die nahen
Latschen. Das Herz klopfte ihm gar gewaltig; aber rasch erdachte er einen
Plan, wie er sich vor dem Biß des Untieres schützen könnte.
Vorsichtig zog er seinen Rock aus und breitete ihn deutlich erkennbar
über einen großmächtigen Stein, der vor ihm lag. Oben
setzte er zur Täuschung auch noch seinen Jagdhut hin, so daß
es aussah, als ob da ein Mensch zwischen Fels und Latschen lauere. Und
nun versteckte er sich im grünen Krummholz und wartete das Weitere
ab.
Er brauchte nicht lange zu warten! Denn über die Wände kam ein
Wetter gezogen und ein paar heftige Windstöße, die als Vorläufer
daherbrausten, erweckten den schlummernden Bergstutzen. Der ermunterte
sich sogleich, hob den Kopf, zog prüfend die Luft durch die schmale
Nase und äugte aufmerksam umher. Und auf einmal erblickte er unweit
von sich den vermeintlichen Jägersmann!
Da ließ das kleine Untier einen durch Mark und Bein gehenden grellen
Pfiff hören und stürzte blindwütig auf den Jagdrock los.
Dabei aber stieß das unheimliche Geschöpf in seiner Rachbegierde
mit so wilder Wucht gegen den Fels, daß es daran zerschellte.
So war es dem schlauen jungen Jäger durch seinen listigen Einfall
gelungen, sein Leben zu retten!
Freilich, den Rock konnte er nicht mehr tragen! Denn der Birgstutzen hatte
im Hinspringen sein Gift darauf gespritzt und damit eine Menge garstiger
Löcher in den guten, grauen Loden gebrannt. Aber mit richtigem Stolz
bewahrte der Jägersmann trotzdem den Rock sein Lebtag auf und zeigte
ihn her, wenn er von diesem tollen Abenteuer erzählte.
Quelle: Sagenschatz aus dem Salzkammergut, Iolanthe Hasslwander, Steyr 1981