Die Engl-Höhle
Von der märchenhaften Pracht und Schönheit der Dachsteinhöhlen
hast du bestimmt schon gehört und wohl auch Bilder und Karten von
all den eisschimmernden Domen, Gewölben, Hallen und Gängen gesehen.
Ja vielleicht war es dir sogar vergönnt, diese Wunderwelt im Dachsteininneren
selbst beschauen und erleben zu dürfen!
Kennst du aber auch die Koppenbrüllerhöhle? Sie durchzieht den
Koppenberg, der dem Dachsteinmassiv angegliedert ist. Von Obertraun führt
ein stiller, moosiger Waldweg zu dieser Höhle. Oder man fährt
mit der Bahn zur Station "Koppenbrüllerhöhle" und
hat dann nur mehr eine Viertelstunde zu gehen; denn der Eingang der Höhle
liegt nicht allzu hoch über den schäumenden Wassern der Traun,
in die sich die "brüllende" Koppenache mit Rauschen und
Brausen hinabstürzt.
Ist man in die Höhle eine kurze Strecke hineingegangen, dann sieht
man einen schmalen Pfad, den "Geistersteig", abzweigen, der
den Besucher zu einem tiefer gelegenen Raum, der "Engl-Höhle",
geleitet. Und von dieser Höhle weiß man folgende Geschichte
zu erzählen. Es war im Jahre 1776, als der schmucke Franz Engl aus
Hallstatt zu den Soldaten einberufen wurde, um seiner Militärdienstpflicht
nachzukommen. Während aber andere Burschen in gleicher Lage den Befehl
mit heimlicher Freude entgegennahmen, brach dem armen Franzl schier das
Herz. Denn eine lange Trennung von der Heimat und seiner lieben Braut,
der hübschen, braven Holzer Seffi aus Obertraun, schien ihm geradezu
unmöglich.
Und doch - es wurde auch die so schmerzliche Abschiedsstunde überwunden,
und das Mädchen atmete auf, weil sich der Verlobte recht gefaßt
benommen hatte. Umsomehr erschrak sie bis in die Seele hinein, als nach
mehreren Wochen nachts an ihr Kammerfenster geklopft wurde und der Ferngeglaubte
im Dunkel vor ihr stand. Als Deserteur war er wiedergekehrt - Heimweh
nach den Dachsteinbergen und Sehnsucht nach seiner Braut hatten ihn zur
Flucht getrieben! Flüsternd flehte er seine Seff um Hilfe an und
teilte ihr seinen Plan mit:
Er wollte sich in der Koppenbrüllerhöhle versteckt halten -
und sie sollte ihn mit Nahrung versorgen! Und um Gotteswillen: sie möge
ihn ja nicht verraten, sonst würde er aufgegriffen und als Deserteur
erschossen. Sein Leben hinge an ihrer Verschwiegenheit!
Seffi versprach dem Verlobten alle nur mögliche Unterstützung,
schnürte rasch ein Bündel mit Decken und warmer Kleidung und
nötigte ihn, sogleich die schützende Höhle aufzusuchen.
Wochenlang sorgte das treue Mädchen für den Flüchtling
und brachte ihm alles, was er zum Leben in seiner Einsamkeit brauchte.
Eines Tages aber kam sie schon fieberglühend zur Höhle hinauf
und brach an des Burschen Mooslager zusammen. Franz tat für die Schwerkranke,
was er nur konnte; aber immer schlechter stand es um sie, und so entschloß
sich der Deserteur, zur Nachtzeit den Hallstätter Pfarrer Matthias
Stibinger aufzusuchen und ihm sein Geheimnis anzuvertrauen. Der edle Priester
war tief ergriffen von den Bekenntnissen des leidgeprüften jungen
Menschen, machte sich eilends zum nächtlichen Versehgang auf und
konnte auch wirklich der treuen Braut noch eine glückliche Sterbestunde
bereiten. Er sorgte außerdem dafür, daß vertrauenswürdige
Männer das tote Mädchen zu Tal trugen und ein ehrenvolles Begräbnis
stattfand. Der unglückliche Engl Franz aber blieb weiterhin in der
Höhle; und kein liebendes Herz sorgte sich mehr um seine Nahrung
und Kleidung. Dem guten Pfarrer Stibinger ging jedoch das trübe Schicksal
des armen Flüchtlings in der Höhleneinsamkeit so nahe, daß
er kurz entschlossen nach Wien fuhr und der großen Kaiserin Maria
Theresia den erschütternden Fall persönlich vortrug. Die gütige
hohe Frau ließ sich durch die traurigen Umstände rühren
und begnadigte den Deserteur, sodaß der barmherzige Priester bald
darauf den halbverhungerten Franz Engl aus seinem Versteck in der Koppenbrüllerhöhle
erlösen konnte. Seither heißt die von ihm bewohnte Zufluchtsstätte
"Engl-Höhle". Und den schmalen Pfad, der zu ihr hinunterführt,
nennt man Geistersteig, weil dort schon gar mancher Besucher dem bleichen
Schatten der armen, treuen Seffi begegnet sein soll.
An den unglücklichen Deserteur erinnert heutzutage aber auch noch
eine gemalte Votivtafel, die an der Koppenstraße steht und zum Andenken
an seine tragische Geschichte von Männern aus Obertraun errichtet
wurde.
Quelle: Sagenschatz aus dem Salzkammergut, Iolanthe Hasslwander, Steyr 1981