Auf der Thingstätte
Ein wunderschönes Erlebnis ist es, von der kleinen Siedlung Weißenbach,
die zu Goisern gehört, in das Tal des Weißenbaches zu wandern.
Die Straße, die schon zu Kaiser Franz Josephs Zeit angelegt wurde,
führt durch prächtige Laub- und Nadelwälder an den Südhängen
des Kattergebirges entlang. Im Grunde des engen Talbodens hört man
den Weißenbach rauschen und brausen; sehen kann man ihn auf der
ganzen Strecke nur selten, denn Wald und Strauchwerk stehen zu dicht,
um einen Blick in die Tiefe zu erlauben.
Vorzeiten wurde das geschlägerte Holz aus diesem Gebiet durch das
Wildwasser des Weißenbaches bis hinaus zur Traun getragen. Die Tage
der Trift, die vorher in Goisern und Ischl bekanntgegeben wurden, schenkten
Einheimischen und Fremden ein aufregendes Schauspiel. Von weit und breit
kamen die Leute, um dabeizusein!
Die Klause, in der man den Weißenbach für die Trift aufstaute,
war vordem aus Baumstämmen zurechtgezimmert; die Anlage stammte noch
aus dem 16. Jahrhundert. Erst um 1809 begann man sie aus mächtigen
Steinquadern neu und dauerhafter aufzubauen. In Anwesenheit des Grafen
Chorinsky wurde das fertige Stauwerk 1819 eröffnet und heißt
seitdem "Chorinskyklause". Damals wurden von dem kunstfertigen
Steinmetz und seinen Gesellen für eine nahe Waldlichtung auch ein
großer, steinerner Rundtisch und acht kantig behauene Hocker verfertigt.
Der Tisch allein schon ist heute noch ein beachtenswertes Schaustück;
denn Platte und Fuß sind aus einem einzigen Felsblock herausgearbeitet
und wiegen nahezu zweitausend Kilo. Hier im Freien fanden sich nach Jagdschluß
die Jäger zur Mahlzeit zusammen; hier wurde auch die Beute aufgelegt
und verteilt.
In grauer Vorzeit sei da in der versteckten Waldlichtung eine Thingstätte
gewesen. Du weißt ja: ein "Thing" war eine Gerichtsversammlung,
bei der Urteile gefällt, verkündet und meist auch vollzogen
wurden.
Damals schon stand hier ein Thingtisch; und an die hohe alte Fichte lehnte
sich ein großer, verwitterter Stein, der Richterstuhl, um den sich
sieben Sitze für die Schöffen gruppierten.
In jedem Jahr gab es etliche geheime Zusammenkünfte, bei denen über
Ehre und Leben angeklagter oder oft auch zu Unrecht verleumdeter Mitmenschen
entschieden wurde. Und leitete ein bestochener oder gehässiger Richter
die Sitzung, so kam es zu bewußten Fehlurteilen; und manch Unschuldiger
wurde verfemt, um Haus und Hof gebracht oder gleich gehängt.
Auf dem merkwürdigen Hügel am Rande der Lichtung sei in alter
Zeit der Galgen gestanden. Heute aber soll das ein Elfenhügel sein,
in dem diese märchenhaften Waldwesen ihre Wohnung haben.
Sicher ist, daß sich alljährlich in der Johannisnachtacht Raben
an der Thingstätte bei der Chorinskyklause einfinden. Mit ernsten
Mienen nehmen sie rund um den Thingtisch auf den Hockern Platz; der größte
von ihnen aber läßt sich auf dem Richterstuhl nieder.
Dann beginnen sie krächzend ihre Gerichtssitzung, bei der es immer
lauter und lauter zugeht. Sie schlagen mit den Flügeln, hacken einander
mit den scharfen Schnäbeln und raufen sich gegenseitig die Federn
aus. Dieses wüste Treiben dauert von Mitternacht bis zur ersten Morgenstunde.
Da aber verstummt ihr häßliches Gekreische im Nu. Lautlos schwingen
sie sich von den steinernen Hockern empor und entfliehen in die dunklen
Wälder. Du begreifst ja: die einstigen ungerechten Schöffen
und Richter sind es, die hier an der Thingstätte als verwunschene
Raben ihre falschen Urteile abbüßen!
Aber auch die wilde Jagd, die in den Rauhnächten vom Dachstein her
über Goisern und Wildenstein nach Ebensee reitet, macht gerne Rast
an der Thingstätte. Da rasen die Geister in tollem Tanz über
die kleine, verschneite Waldwiese; andere aus dem Gefolge sitzen um den
Steintisch und leeren einen Becher um den anderen. Und die Windsbraut
füllt lachend mit goldenem Wein nach, den sie aus einem Zipfel ihres
Schleiers preßt. Wieder andere werfen mit Messern nach den Waldbäumen,
so daß purpurne und bernsteinfarbene Harztränen über ihre
Stämme rinnen.
Tut aber der wilde Jäger jäh einen grellen Pfiff, so hören
Tanz und Gelage und Messerproben auf - alles stürzt lärmend
zu den Reittieren und in einem Saus ist die unholde Geisterschar dahin!
Ja, die Thingstätte im Weißenbachtal, die könnte mancherlei
erzählen! Verwunderlich klingt das alles und du staunst - ich merke
es dir an! Aber mir darfst du wohl glauben. Denn ich habe die Klause und
die geheimnisvolle Thingstätte, den Elfenhügel und die weinenden
Bäume selbst gesehen!
Quelle: Sagenschatz aus dem Salzkammergut, Iolanthe Hasslwander, Steyr 1981