Der Trauntaler Rattenfänger
Vorzeiten hatten die Menschen gar viel an den Ratten zu leiden, die aus
dem Fernen Osten nach Europa eingeschleppt worden waren. Schon im Mittelalter
gab es ganze Scharen von Hausratten und um 1700 kamen noch die weitaus
schlimmeren Wanderratten dazu. In Kellern und Kammern war nichts mehr
vor ihnen sicher. Sie fielen über Getreide, Obst und Kartoffeln her
und nisteten sich in den Stallungen ein, wo sie das junge Geflügel
erwürgten und die hilflosen Schweine annagten. Auch in Österreich
waren die Ratten eine wirkliche Plage, gegen die man aber damals kaum
etwas unternehmen konnte.
Nicht anders verhielt es sich in den größeren Orten des Salzkammergutes,
wo sich die Ratten in solcher Zahl vorfanden, daß sie ungescheut
beim hellichten Tag über Markt und Gassen liefen. Besonders zu leiden
hatte aber Ischl, dessen Bewohner befürchteten, diese widerlichen
Nagetiere könnten nicht nur den gewohnten Schaden stiften, sondern
überdies Krankheiten wie die Pest im Ort verbreiten.
Wie froh war man also über die Nachricht, daß ein Wanderbursche,
der aus Bad Aussee über Goisern nach Ischl gekommen war, ein tüchtiger
Rattenfänger sei. Er bot sich auch tatsächlich den Räten
an, gegen einen guten Lohn die Ratten zu vertreiben.
Bald war man mit ihm handelseins und er ging, von vielem Volk begleitet
und bestaunt, sogleich ans Werk. Nahe dem Ufer der Traun stellte er sich
auf und zog eine Flöte hervor, mit der er zuerst zauberische Zeichen
in die vier Windrichtungen machte. Dann aber spielte er eine merkwürdig
helle, lustige Melodie - und denk dir nur: schon kamen aus Kellern und
Vorhäusern und sonstigen Schlupfwinkeln die Ratten haufenweise herbei,
um dem fröhlichen Spiele zu lauschen!
Er stieg hinunter zur Traun und bestieg ein bereitliegendes Schifflein,
das ihn langsam davontrug. Und die von dem Flötenspieler ganz betörten
Ratten stürzten sich insgesamt ins Wasser und schwammen ihm nach.
Du kannst dir denken, wie froh da die Ischler waren! Endlich hatten sie
Ruhe von dieser garstigen Plage. - - Aber höre nur, wie es weiterging!
Um eine kurze Rast einzuschalten und sich mit Speise und Trank zu laben,
stieg der Bursche in Ebensee aus; und da sprangen auch die Ratten ans
Ufer, um ihm zu folgen.
Das sah ein Mann aus Ebensee und fing daraufhin mit dem jungen Flötenbläser
einen heftigen Streit an. Ja, es blieb nicht beim Streiten: der Mann überwältigte
ihn plötzlich und schlug auf ihn los, daß ihm Hören und
Sehen verging, und ließ ihn dann betäubt liegen.
Als der Wanderbursche wieder zu sich gekommen war, sprach er Fluchworte
über das Gebiet von Ebensee - und gegen Ischl hin den Segenswunsch,
daß es fortan von Ratten verschont bleiben möge. Dann bestieg
er wieder sein Schifflein und fuhr über den Traunsee nach Gmunden,
von wo er zu Fuß weiterwanderte.
Die eine Hälfte der Ratten folgte ihm und verlor sich in den Tiefen
des Sees; die andere Hälfte verblieb im Umkreis von Ebensee und begann
Schaden anzurichten.
Da wollten denn die Ebenseer bald darauf ausprobieren, ob des Flötenspielers
Fluch noch wirksam sei. Sie fingen also eine Menge Ratten zusammen, verfrachteten
sie auf ein Schiff und führten sie traunaufwärts gegen Ischl
zu. Aber als sie an den letzten kleinen Häusern, die noch zu Ebensee
gehörten, vorbeikamen, sprangen alle Ratten eiligst über die
Planken und Wände des Fahrzeuges, schwammen ans Ufer und liefen zum
alten Ort zurück.
Der Fluch des Flötenspielers hatte sich demnach bewahrheitet; ihn
selbst aber sah man nimmer wieder!
Quelle: Sagenschatz aus dem Salzkammergut, Iolanthe Hasslwander, Steyr 1981