Das Burgfräulein von Wildenstein
Schön ist es, von der hochgelegenen Ruine Wildenstein hinabzublicken
auf Ischl und das helle Band der Traun und zu den vielen Wäldern
und Bergen rundum. Sonnenschein breitet sich über die Mauerreste
der einstigen Festung, und der Wind rauscht in den Fichten, die im Burghof
grünen. Ja, schön ist es da heroben! Und gerade in dieser verträumten
Ruineneinsamkeit mag man es doppelt gern, wenn der alte Burgvogt die Sage
erzählt vom Geisterfräulein zu Wildenstein.
Ischl gehörte dereinst zur Herrschaft Wildenstein, die mancherlei
Besitztum und Rechte im Salzkammergut hatte. Die Burg war stark befestigt
und besaß sogar geheime Notausgänge, die durch Erdreich und
Felsen bis zur Traun hinunter und nach Lauffen führten. Einer von
diesen unterirdischen Gängen wurde 1879 teilweise erforscht und da
bestätigten sich die alten mündlichen Überlieferungen.
Das edle Geschlecht der Herren von Wildenstein verrohte aber mit der Zeit
und hinterließ im Volk kein gutes Andenken. Da die Wildensteiner
die Gerichtsbarkeit über das weite Land im Umkreis innehatten und
überdies der Galgen nicht allzu fern von der Burg stand, wurde oft
und oft ein voreiliges, hartes oder gar falsches Urteil über Unschuldige
gesprochen. Man kann es begreifen, daß den ungerechten Richtern
von ihren armen Opfern zahllose Verwünschungen zugerufen wurden!
Endlich aber starb auch das Geschlecht der gefürchteten Wildensteiner
aus; doch die Letzte aus diesem Stamm muß nun die Sünden ihrer
Vorfahren büßen.
Ab und zu in lauen Sommernächten schwebt das blasse Burgfräulein
um Ruine und Felsen oder sie schweift durch den dunklen Wald und fleht
einsame Wanderer um Hilfe und Erlösung an.
"Komm doch zur nächsten Vollmondnacht hieher und fürchte
dich nicht!" sagt sie bittend. "Nimm Farnkraut mit dir und Palmkatzerl!
Mit dem Farnkraut lege im Burghof um dich her einen Kreis; und dann warte!
Bald wird es blitzen und donnern und krachen - und ich werde als Schlange
mit sieben Köpfen daherkommen! Doch hab ja keine Angst, sondern schlage
mit den geweihten Palmkatzerln auf jeden meiner sieben Köpfe! Die
werden abfallen - und ich stehe endlich, endlich erlöst vor dir!
Dann will ich dir gleich im Gestein die Schatztruhe zeigen, die als mein
Dankeszeichen dir gehört!"
Freilich ließ sich im Lauf der Jahre schon so mancher von dem engelschönen
Wesen erbitten und wagte ihre Befreiung. Wenn aber das Krachen und Knirschen
im Burgfelsen anhebt, wenn Blitze zucken und Donner grollen und sich im
feurigen Schein die siebenköpfige Schlange daherwindet und wütend
auf den Retter losfährt, da wird der Mutigste schwach!
Der letzte wackere Bursche, der das Wildensteiner Burgfräulein erlösen
und den reichen Goldschatz gewinnen wollte, war der Kreuzhuber Lois aus
Lauffen.
Aber auch er konnte all diese Schrecknisse nicht ertragen; als er die
feuerglänzende, siebenköpfige Schlange sah, sprang er voll Entsetzen
aus dem schützenden Farnkrautkreis und rannte Hals über Kopf
den Burgberg hinunter.
Am Morgen merkten seine Bekannten mit Schrecken und Mitleid, daß
der Lois in der einen Nacht grauhaarig geworden war. Seitdem ist keiner
mehr ausgezogen, um das Burgfräulein zu erlösen; und so muß
sie auch ferner klagend um die Felsen geistern.
Siehst du: diese Geschichte erzählte der alte Burgvogt von Wildenstein!
Und wo ließe sie sich besser anhören als auf der Ruine selbst?
Quelle: Sagenschatz aus dem Salzkammergut, Iolanthe Hasslwander, Steyr 1981